Kein Engel so rein
ein Fehler, wie konnte ihr das zum Verhängnis werden? Und dann noch die Staatsanwaltschaft, die heute bekannt gibt, gegen diesen Stokes würde wegen der Schüsse keine Anklage erhoben. Ich bin Anwalt, aber das verstehe ich einfach nicht. Sie lassen ihn laufen.«
Bosch betrachtete den älteren Mann, sah den Schmerz in seinen Augen.
»Bedaure, Sir. Ich wünschte, ich könnte es Ihnen sagen. Ich habe dieselben Fragen wie Sie.«
Brasher nickte und blickte in das Grab.
»Ich gehe jetzt«, sagte er nach einer Weile. »Danke, dass Sie gekommen sind, Detective Bosch.«
Bosch nickte. Sie schüttelten sich wieder die Hände, und Brasher wandte sich zum Gehen.
»Sir?«, rief ihm Bosch hinterher.
Brasher drehte sich um.
»Wissen Sie, wann jemand von der Familie zu ihrem Haus fährt?«
»Ich habe heute ihre Schlüssel bekommen. Eigentlich wollte ich das jetzt gleich tun. Mir alles mal ansehen. Mir einen Eindruck von ihr verschaffen, um es mal so zu sagen. Wir hatten in letzter Zeit nicht allzu …«
Er sprach nicht zu Ende. Bosch ging auf ihn zu.
»Da ist etwas, was sie hatte. Ein gerahmtes Foto. Wenn es Ihnen nichts … wenn Sie nichts dagegen haben, würde ich es gern haben.«
Brasher nickte.
»Warum kommen Sie nicht mit? Treffen wir uns im Haus. Zeigen Sie mir dieses Bild.«
Bosch sah auf die Uhr. Lt. Billets hatte sie für halb zwei zu sich bestellt, um über den Stand der Ermittlungen zu sprechen. Wahrscheinlich würde die Zeit gerade reichen, um nach Venice zu fahren und zurück zur Station. Fürs Mittagessen bliebe dann zwar keine Zeit, aber er konnte sich sowieso nicht vorstellen, etwas zu essen.
»Okay, ich komme mit.«
Sie trennten sich und gingen zu ihren Autos. An der Stelle, wo der Salut abgefeuert worden war, blieb Bosch stehen. Er durchkämmte mit dem Fuß den Rasen, bis er ein Aufblitzen von Messing sah. Er bückte sich und hob eine der leeren Patronenhülsen auf. Er hielt sie in seiner Handfläche und betrachtete sie eine Weile, dann schloss er die Hand und ließ die Hülse in seine Jackentasche gleiten. Er hatte bei jedem Polizistenbegräbnis, an dem er bisher teilgenommen hatte, eine Patronenhülse eingesteckt. Er hatte ein ganzes Marmeladenglas voll davon.
Er drehte sich um und verließ den Friedhof.
35
Jerry Edgar hatte ein Durchsuchungsbefehl-Klopfen drauf, wie es Bosch sonst von niemandem gehört hatte. Wie ein talentierter Sportler, der die Kräfte seines ganzen Körpers im Schwingen eines Schlägers oder im Dunking eines Basketballs vereinen kann, so konnte Edgar sein ganzes Gewicht und seine Größe von einem Meter dreiundneunzig in sein Klopfen legen. Es war, als könnte er die ganze Kraft und Wut der Rechtschaffenen in der Faust seiner großen linken Hand sammeln. Er stellte sich dann immer breitbeinig mit der Seite zur Tür. Er hob den linken Arm, winkelte den Ellbogen weniger als dreißig Grad an und hieb mit der fleischigen Seite der Faust gegen die Tür. Es war ein Rückhandklopfen, aber er konnte die Kolben der beteiligten Muskeln so schnell zum Zünden bringen, dass es wie das Stakkato eines Maschinengewehrs klang. Es klang wie das Jüngste Gericht.
Samuel Delacroix’ aluminiumverkleideter Wohnwagen schien von einem Ende zum anderen zu erzittern, als Edgar am Donnerstag Nachmittag um halb vier mit der Faust an die Tür klopfte. Edgar wartete ein paar Sekunden, bevor er wieder klopfte, aber diesmal rief er auch noch »POLIZEI!« und stieg dann von den lose aufeinander geschichteten Betonsteinen, die als Eingangstreppe herhalten mussten.
Sie warteten. Keiner von beiden hatte seine Waffe gezogen, aber Bosch hatte unter seinem Jackett die Hand um ihren Griff gelegt. Das machte er grundsätzlich so, wenn sie jemand, der nicht als gefährlich galt, einen Durchsuchungsbefehl überbrachten.
Bosch lauschte, ob sich im Innern etwas bewegte, aber das Rauschen vom nahen Highway war zu laut. Er beobachtete die Fenster; keiner der zugezogenen Vorhänge bewegte sich.
»Langsam beginne ich zu glauben,« flüsterte Bosch, »dass die Leute nach diesem Klopfen richtig erleichtert sind, wenn du rufst, dass es nur die Polizei ist. Dann wissen sie wenigstens, es ist kein Erdbeben.«
Edgar antwortete nicht. Wahrscheinlich wusste er, es war nur nervöses Geblödel von Bosch. Grund seiner Nervosität war jedoch nicht das Klopfen – Bosch rechnete fest damit, dass Delacroix harmlos war. Er war nervös, weil er wusste, die nächsten paar Stunden mit Delacroix wären für den Fall von
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