Kein Engel so rein
bekommen, ein Held zu werden. Aber ich glaube, da spielte noch was anderes mit rein. Es war, als ginge es ihr auch um die Narbe, um die Erfahrung, die damit verbunden ist.«
»Und dafür war sie bereit zu töten?«
»Ich weiß es nicht. Ich weiß nicht mal, ob ich mit irgend etwas von all dem richtig liege. Alles, was ich weiß, ist, dass sie zwar noch Anfängerin war, aber bereits an dem Punkt angekommen war, an dem diese klare Trennlinie zwischen uns und denen besteht, an dem jeder ohne Dienstmarke ein Drecksack ist. Sie merkte, wie das mit ihr passierte. Vielleicht hat sie auch nur nach einer Möglichkeit gesucht, da wieder rauszukommen …«
Bosch schüttelte den Kopf und blickte zur Seite. Inzwischen war der Friedhof fast leer.
»Ich weiß auch nicht. Wenn man es laut ausspricht, klingt es wie … Ich weiß auch nicht. Die Welt ist einfach verrückt.«
Er machte einen Schritt weg von Hinojos.
»Wahrscheinlich kennt man niemanden jemals wirklich, oder?«, fragte er. »Man bildet es sich vielleicht ein. Man ist jemandem vielleicht nahe genug, um mit ihm zu schlafen, aber was in dem anderen wirklich vor sich geht, weiß man nie.«
»Nein, das weiß man nie. Jeder hat Geheimnisse.«
Bosch nickte und wandte sich zum Gehen.
»Einen Augenblick noch, Harry.«
Sie öffnete ihre Handtasche und begann, darin zu kramen.
»Ich würde gern noch ausführlicher darüber sprechen.« Sie nahm eine Visitenkarte heraus und reichte sie ihm. »Ich fände es schön, wenn Sie mich anrufen würden. Absolut inoffiziell. Vertraulich. Im Interesse der Polizei.«
Fast hätte Bosch gelacht.
»Das interessiert doch die Polizei nicht. Die Polizei interessiert das Image, nicht die Wahrheit. Und wenn die Wahrheit eine Gefahr für das Image darstellt, wird auf die Wahrheit geschissen.«
»Aber mich interessiert sie, Harry. Und Sie auch.«
Bosch blickte auf die Visitenkarte und nickte und steckte sie ein.
»Gut, ich melde mich bei Ihnen.«
»Meine Handynummer steht auch drauf. Ich habe es ständig bei mir.«
Bosch nickte. Sie machte einen Schritt auf ihn zu und streckte die Hand aus. Sie ergriff seinen Arm und drückte ihn.
»Und Sie, Harry? Kommen Sie klar?«
»Na ja, wenn man davon absieht, dass ich sie verloren habe und von Irving nahegelegt bekomme, über meine Pensionierung nachzudenken, kann ich nicht klagen.«
Hinojos runzelte die Stirn.
»Sie schaffen das schon, Harry.«
Bosch nickte. Ihm fiel ein, dass er bei Julia am Ende die gleichen Worte gebraucht hatte.
Hinojos entfernte sich, und Bosch setzte seinen Weg zum Grab fort. Er dachte, er wäre jetzt allein. Er nahm eine Handvoll Erde von dem Hügel neben dem Grab und ging zu dem Loch und sah hinein. Ein ganzer Strauß und mehrere einzelne Blumen waren auf den Sarg hinabgeworfen worden. Bosch dachte daran, wie er Julia noch zwei Nächte zuvor in seinem Bett in den Armen gehalten hatte. Er wünschte, er hätte das alles kommen sehen. Fr wünschte, er wäre in der Lage gewesen, die Signale zu erkennen und zu einem klaren Bild von dem zusammenzufügen, was sie vorhatte und worauf sie zusteuerte.
Er hob langsam die Hand und ließ die Erde durch seine Finger rieseln.
»Die Stadt der Knochen«, hauchte er.
Er beobachtete, wie die Erde in das Grab fiel wie verfliegende Träume.
»Sie haben sie vermutlich gekannt.«
Bosch drehte sich abrupt um. Es war ihr Vater. Mit einem traurigen Lächeln auf den Lippen. Sie waren die letzten zwei Menschen auf dem Friedhof. Bosch nickte.
»Nicht lange. Ich hatte sie gerade kennen gelernt. Mein Beileid.«
»Frederick Brasher.«
Er streckte die Hand aus. Bosch wollte sie ergreifen, zog sie aber wieder zurück.
»Meine Hand ist schmutzig.«
»Das macht nichts. Meine auch.«
Sie schüttelten sich die Hände.
»Harry Bosch.«
Bei der Nennung des Namens unterbrach Brashers Hand die Schüttelbewegung einen Moment.
»Der Detective«, sagte er. »Sie waren gestern dabei.«
»Ja. Ich habe versucht … ich tat, was ich konnte, um ihr zu helfen. Ich …«
Er brach ab. Er wusste nicht, was er sagen sollte.
»Das kann ich mir denken. Es muss schrecklich gewesen sein, dabei zu sein.«
Bosch nickte. Wie ein Röntgenstrahl, der seine Knochen sichtbar machte, durchströmte ihn eine Woge von Schuldgefühlen. Er hatte sie in dem Glauben zurückgelassen, sie würde durchkommen. Irgendwie schmerzte ihn das fast genauso sehr wie der Umstand, dass sie gestorben war.
»Was ich nicht verstehen kann, ist, wie es dazu kam«, sagte Brasher. »So
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