Kein Engel so rein
notierte die Zahl auf dem Block. Es kam ihm wie eine sinnlose Geste vor.
»Hauptsächlich lassen sich die gerade genannten Verletzungen anhand subperiostaler Läsionen an den Fundstücken feststellen«, fuhr Golliher fort. »Diese Läsionen sind dünne neue Knochenschichten, die im Bereich der Verletzung oder Blutung unter der Oberfläche nachwachsen.«
»Subperi… wie schreibt man das?«, fragte Bosch.
»Ist doch egal. Es steht im Bericht.«
Bosch nickte.
»Sehen Sie sich das mal an.« Golliher ging zum Röntgenschirm an der Wand und machte das Licht an. Auf dem Schirm war bereits eine Röntgenaufnahme, auf der ein langer dünner Knochen zu sehen war. Golliher fuhr mit dem Finger den Knochen entlang und zeigte auf eine Stelle, die sich farblich etwas abhob.
»Das ist das Femur, das gefunden wurde«, sagte er. »Der Oberschenkelknochen. Diese Linie hier, wo sich die Farbe verändert, das ist eine der Läsionen. Das heißt, dieser Bereich – der Oberschenkel des Jungen – hat in den Wochen vor seinem Tod einen ziemlich heftigen Schlag abbekommen. Einen zermalmenden Schlag. Davon ist der Knochen nicht gebrochen, aber er wurde beschädigt. An der Oberfläche hat diese Verletzung zweifellos zu massiven Blutergüssen geführt und vermutlich das Gehvermögen des Jungen beeinträchtigt. Ich will damit sagen, das kann nicht unbemerkt geblieben sein.«
Bosch trat vor, um die Röntgenaufnahme zu betrachten. Edgar blieb, wo er war. Als er fertig war, nahm Golliher die Röntgenaufnahme ab und hängte drei andere auf, die den ganzen Lichtkasten bedeckten.
»Außerdem haben wir auf beiden Gliedern periostale Abscherungen. Das sind Abschürfungen der Knochenoberfläche, die man vor allem dann bei Kindesmisshandlungen beobachten kann, wenn mit der Hand des Erwachsenen oder einem Gegenstand mit großer Wucht auf den entsprechenden Körperteil geschlagen wird. Genesungsmuster auf diesen Knochen zeigen, dass dem Kind diese spezielle Art von Verletzung immer wieder und über Jahre hinweg zugefügt wurde.«
Golliher hielt inne, um auf seine Notizen zu sehen, dann blickte er wieder auf die Knochen auf dem Tisch. Als er den Oberarmknochen nahm und hochhielt, stellte Bosch fest, dass er keine Handschuhe trug. Er blickte auf seine Aufzeichnungen, als er fortfuhr:
»Der Humerus, der rechte Humerus weist zwei verschiedene verheilte Frakturen auf. Die Brüche verlaufen in Längsrichtung. Das heißt, die Brüche rühren daher, dass der Arm sehr stark verdreht wurde. Es passierte ihm einmal und dann noch einmal.«
Er legte den Knochen zurück und nahm einen der Unterarmknochen.
»Die Ulna weist eine verheilte Querfraktur auf. Der Bruch hatte eine leichte Abweichung in der Stellung des Knochen zur Folge. Und zwar deshalb, weil man den Knochen nach der Verletzung von selbst hat heilen lassen.«
»Soll das heißen, er wurde nicht geschient?«, fragte Edgar. »Der Junge wurde nicht zu einem Arzt oder ins Krankenhaus gebracht?«
»Ganz richtig. Bei dieser Art von Verletzungen, wie sie in Krankenhäusern tagtäglich behandelt werden, handelt es sich normalerweise um Unfallverletzungen. Es kann aber auch eine Abwehrverletzung sein – wenn man zum Beispiel den Arm hochhält, um einen Angriff abzuwehren, und dabei einen Schlag auf den Unterarm bekommt. Dann kommt es zu diesem Bruch. Weil es keine Hinweise gibt, dass diese Verletzung ärztlich behandelt wurde, gehe ich davon aus, dass es sich nicht um eine Unfallverletzung handelt und dass sie Teil der Misshandlungen war.«
Golliher legte den Knochen behutsam an seinen Platz zurück und beugte sich dann über den Untersuchungstisch, um den Brustkorb zu betrachten. Viele der Rippen hatten sich gelöst und lagen einzeln auf dem Tisch.
»Die Rippen«, sagte Golliher. »Fast zwei Dutzend Frakturen in verschiedenen Heilungsstadien. Eine geheilte Fraktur der zwölften Rippe könnte aus der Zeit stammen, als der Junge erst zwei oder drei war. Die neunte Rippe weist einen Kallus auf, der auf eine Verletzung hindeutet, die zum Todeszeitpunkt nur wenige Wochen alt war. Die Frakturen sind in erster Linie an den Anguli costae zusammengewachsen. Bei Kleinkindern ist es ein Hinweis auf heftiges Schütteln. Bei älteren Kindern deutet es auf Schläge auf den Rücken hin.«
Bosch dachte an die Schmerzen, die er hatte, und dass er wegen seiner Rippenprellungen nicht hatte schlafen können. Er dachte daran, wie es für einen kleinen Jungen sein musste, jahrein jahraus mit solchen Schmerzen zu
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