Kein Engel so rein

Histologisch leiden Opfer chronischen Missbrauchs häufig an einer sogenannten Wachstumsverzögerung. Diese missbrauchsbedingte Wachstumshemmung erschwert die Altersschätzung. Jedenfalls hat sie oft zur Folge, dass ein Skelett jünger aussieht, als es tatsächlich ist. Was ich damit sagen will, ist, dieser Junge sieht aus wie zehn, war aber wahrscheinlich schon zwölf oder dreizehn.«
    Bosch sah zu Edgar hinüber. Er stand mit fest verschränkten Armen da, als wappnete er sich für das Bevorstehende. Bosch nahm ein Notizbuch aus seiner Jackentasche und begann sich in Kurzschrift Notizen zu machen.
    »Todeszeitpunkt«, fuhr Golliher fort. »Nicht ganz einfach. In dieser Hinsicht sind die radiologischen Tests alles andere als genau. Wir haben die Münze, womit neunzehnhundertfünfundsiebzig als frühestmöglicher Zeitpunkt feststeht. Das ist schon mal eine Hilfe. Also, meinen Schätzungen zufolge hat dieser Junge irgendwo zwischen zwanzig und fünfundzwanzig Jahre unter der Erde gelegen. Damit kann ich ganz gut leben. Außerdem wird diese Schätzung durch ein paar medizinische Hinweise gestützt, auf die wir gleich kommen werden.«
    »Demnach haben wir also einen zehn- bis dreizehnjährigen Jungen, der vor zwanzig bis fünfundzwanzig Jahren ermordet wurde«, resümierte Edgar mit einem Anflug von Frustration in der Stimme.
    »Ich weiß, ich gebe Ihnen da einen ziemlich weit gesteckten Parameterrahmen«, sagte Golliher. »Aber im Moment ist das alles, was die Wissenschaft für Sie tun kann.«
    »Nicht Ihre Schuld, Doc.«
    Bosch schrieb alles auf. Trotz der vagen Schätzung war es für die Ermittlungen von größter Wichtigkeit, einen zeitlichen Rahmen abzustecken. Gollihers Schätzung siedelte den Todeszeitpunkt Ende der 70er, Anfang der 80er Jahre an. Einen Moment dachte Bosch daran, wie Laurel Canyon damals gewesen war. Es war eine rustikale, exzentrische Enklave gewesen, teils Boheme, teils Oberschicht, mit Kokaindealern und -konsumenten, Pornoproduzenten und ausgebrannten Rock-and-Roll-Hedonisten in fast jeder Straße. Könnte die Ermordung eines Kindes Teil dieser Mixtur gewesen sein?
    »Todesursache«, fuhr Golliher fort. »Wissen Sie was, sparen wir uns die Todesursache für den Schluss auf. Ich fange lieber mit den Gliedmaßen und dem Rumpf an, um Ihnen eine Vorstellung zu vermitteln, was dieser Junge in seinem kurzen Leben erdulden musste.«
    Einen Moment blieb sein Blick auf Boschs Augen haften, bevor er wieder zu den Knochen zurückkehrte. Bosch atmete tief ein, was seine geprellten Rippen mit einem stechenden Schmerz quittierten. Die Befürchtungen, die ihn oben auf dem Hügel beim Anblick der kleinen Knochen überkommen hatten, würden sich jetzt bewahrheiten. Instinktiv hatte er schon die ganze Zeit gewusst, dass es darauf hinauslaufen würde. Dass aus der aufgewühlten Erde eine Geschichte des Grauens hervorkommen würde.
    Er drückte den Kugelschreiber beim Schreiben tief in das Papier des Blocks, als Golliher fortfuhr: »Zuallererst, wir haben hier nur etwa sechzig Prozent der Knochen. Dennoch liegen uns eindeutige Beweise für massive skeletale Traumata und chronische Misshandlungen vor. Ich weiß nicht, wie weit Sie anthropologisch bewandert sind, aber ich gehe mal davon aus, dass vieles von all dem neu für Sie ist. Deshalb zunächst ein paar grundlegende Dinge. Knochen heilen von selbst, meine Herren. Und durch die Untersuchung der Knochenregeneration ist es uns möglich, die Geschichte der Misshandlungen zu rekonstruieren. Auf diesen Knochen befinden sich multiple Läsionen in unterschiedlichen Heilungsphasen. Es gibt alte und neue Frakturen. Wir haben nur zwei der vier Extremitäten, aber beide weisen multiple Fälle von Verletzungen auf. Kurz gesagt, das Leben dieses Jungen bestand größtenteils darin, verletzt zu werden oder Verletzungen auszuheilen.«
    Bosch blickte auf seinen Block und den Stift hinab. Er hielt beides so fest gepackt, dass sich seine Hände weiß verfärbten.
    »Bis Montag bekommen Sie meinen schriftlichen Bericht, aber wenn Sie ein paar Zahlen wollen, kann ich Ihnen schon mal sagen, ich habe vierundvierzig Stellen gefunden, die auf separate Verletzungen in unterschiedlichen Heilungsstadien hinweisen. Und das waren nur seine Knochen, Detectives. Das sagt noch nichts über die Schäden, die dem Jungen an lebenswichtigen Organen und an Gewebe zugefügt worden sein könnten. Jedenfalls besteht kein Zweifel, dass er wahrscheinlich tagein, tagaus enorme Schmerzen hatte.«
    Bosch