Kein Engel so rein
Es lag eine in Plastik eingepackte Leiche darauf.
»Ist dir eigentlich schon mal aufgefallen, Harry, dass sie sie genauso verpacken wie die Burritos bei Taco Bell?«
Bosch nickte dem Mann, der die Bahre schob, zu.
»Darum esse ich auch keine Burritos.«
»Echt?«
Ohne zu antworten, ging Bosch weiter den Gang hinunter.
Suite A war ein Obduktionsraum, der für die seltenen Gelegenheiten reserviert war, bei denen Teresa Corazon ihren administrativen Aufgaben als Leiterin des gerichtsmedizinischen Instituts den Rücken kehrte und selbst eine Obduktion vornahm. Weil der Fall anfangs ihr vereinnahmendes Interesse geweckt hatte, hatte sie offensichtlich Golliher erlaubt, ihren Raum zu benutzen. Nach dem Zwischenfall auf dem Toilettenwagen war Corazon jedoch nicht mehr an den Tatort in der Wonderland Avenue zurückgekehrt.
Sie traten durch die Schwingtür der Suite und wurden von einem Mann in Jeans und Hawaiihemd empfangen.
»Nennen Sie mich einfach Bill«, sagte Golliher. »Sie haben wohl zwei anstrengende Tage hinter sich.«
»Das können Sie laut sagen«, sagte Edgar.
Golliher nickte freundlich. Er war um die fünfzig und hatte dunkles Haar, dunkle Augen und ein umgängliches Wesen. Er deutete auf den Obduktionstisch, der in der Mitte des Raums stand. Die Knochen, die unter den Akazien gefunden worden waren, waren jetzt über seine Edelstahloberfläche verteilt.
»Als Erstes sollte ich Ihnen vielleicht erklären, was wir hier gemacht haben«, begann Golliher. »Während das Team vor Ort das Beweismaterial geborgen hat, habe ich hier die einzelnen Stücke untersucht, Röntgenaufnahmen von ihnen gemacht und schon mal versucht, erste Schlussfolgerungen zu ziehen.«
Bosch trat an den Edelstahltisch. Die Knochen waren so angeordnet, dass sie ein fragmentarisches Skelett bildeten. Die Teile, deren Fehlen am offensichtlichsten war, waren die Knochen des linken Armes und Beines sowie der Unterkiefer. Vermutlich waren das die Teile, die schon vor langer Zeit von Tieren ausgegraben und weit verstreut worden waren.
Jeder Knochen war gekennzeichnet, die größeren mit Aufklebern, die kleineren mit Etiketten, die mit Schnüren an ihnen befestigt waren. Bosch wusste, die Angaben auf diesen Etiketten bezogen sich auf die Lage des jeweiligen Knochen in dem Raster, das Kohl am ersten Grabungstag festgelegt hatte.
»Knochen können uns sehr viel darüber verraten, wie ein Mensch gelebt hat und wie er gestorben ist«, sagte Golliher ernst. »In Fällen von Kindesmissbrauch lügen die Knochen nie. Hier werden die Knochen unsere endgültigen Beweise.«
Bosch blickte sich nach ihm um und stellte fest, dass seine Augen gar nicht dunkel waren. Sie waren in Wirklichkeit blau, aber sie lagen sehr tief und wirkten irgendwie gequält. Golliher blickte an Bosch vorbei auf die Knochen auf dem Tisch. Fast im selben Moment riss er sich wieder von seinen Gedanken los und sah Bosch an.
»Fangen wir vielleicht einfach damit an, dass uns die geborgenen Gegenstände eine Menge Dinge erzählen«, fuhr der Anthropologe fort. »Ich muss Ihnen allerdings sagen, ich bin schon zu vielen Fällen hinzugezogen worden, aber dieser hier schlägt dem Fass den Boden aus. Ich habe mir die Knochen angesehen und mir dazu Notizen gemacht, und dann sah ich auf meinen Block, und es war alles verschmiert. Ich habe geweint. Ich habe geweint und habe es zunächst gar nicht gemerkt.«
Mit einem Blick voll Zärtlichkeit und Mitleid sah er wieder auf die Knochen. Bosch war klar, dass der Anthropologe den Menschen sah, der das einmal gewesen war.
»Das hier ist eine ganz üble Geschichte. Wirklich ganz übel.«
»Dann sagen Sie uns, was Sie haben, damit wir uns an die Arbeit machen können«, sagte Bosch mit einer Stimme, die sich wie ein ehrfürchtiges Flüstern anhörte.
Golliher nickte und griff hinter sich, um einen Spiralblock von einer Arbeitsplatte zu nehmen.
»Okay«, sagte er. »Fangen wir ganz von vorne an. Einiges von dem allem wissen Sie vermutlich schon, aber wenn es Ihnen nichts ausmacht, werde ich trotzdem alle meine Erkenntnisse mit Ihnen durchgehen.«
»Es macht uns nichts aus«, sagte Bosch.
»Gut. Also dann. Was wir hier haben, sind die sterblichen Überreste eines jungen männlichen Weißen. Vergleiche mit den Werten in den Maresh-Wachstumstabellen ergeben ein Alter von etwa zehn Jahren. Wie wir allerdings gleich noch sehen werden, war dieses Kind über einen längeren Zeitraum hinweg schweren körperlichen Misshandlungen ausgesetzt.
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