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Kein Engel so rein

Kein Engel so rein

Titel: Kein Engel so rein Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Connelly
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folgende Operation ereigneten sich zirka sechs Monate vor dem Tod des Jungen.«
    »Aber es war nicht diese Verletzung, die zu seinem Tod geführt hat?«, fragte Bosch.
    »Nein, das war das hier.«
    Golliher drehte den Schädel noch einmal und zeigte ihnen eine weitere Fraktur. Diese befand sich links unten am Hinterkopf.
    »Enge Spinnwebenfraktur ohne Überbrückung, ohne Konsolidierung. Diese Verletzung wurde ihm zum Zeitpunkt seines Todes beigebracht. Die Enge der Fraktur deutet auf einen mit enormer Wucht ausgeführten Schlag mit einem sehr harten Gegenstand hin. Einem Baseballschläger vielleicht. Etwas in der Art.«
    Bosch nickte und blickte auf den Schädel hinab. Golliher hatte ihn so gedreht, dass seine leeren Augenhöhlen auf Bosch gerichtet waren.
    »Am Kopf befinden sich noch andere Verletzungen, aber ohne fatale Folgen. Die Nasenknochen und der Jochfortsatz weisen neue Knochenbildungen nach einer Verletzung auf.«
    Golliher ging zum Obduktionstisch zurück und legte den Schädel behutsam darauf.
    »Ich glaube nicht, dass ich noch viel für Sie zusammenfassen muss, meine Herren, aber um es kurz zu sagen: Jemand hat diesen Jungen regelmäßig halb tot geprügelt. Irgendwann ist der Betreffende dann zu weit gegangen. Aber das werden Sie alles in Ihrem Bericht finden.«
    Er wandte sich vom Obduktionstisch ab und sah die zwei Detectives an.
    »Aber einen winzigen Lichtschimmer gibt es bei der ganzen Sache. Etwas, das Ihnen weiterhelfen könnte.«
    »Die Operation«, sagte Bosch.
    »Richtig. Die Öffnung eines Schädels ist ein massiver Eingriff. Irgendwo muss es darüber Aufzeichnungen geben. Es muss eine Nachuntersuchung stattgefunden haben. Das herausgefräste Stück wird nach der Operation mit Metallklammern fixiert. Im Schädel wurden aber keine gefunden. Deshalb nehme ich an, sie wurden im Zuge einer zweiten Behandlung entfernt. Auch darüber muss es Aufzeichnungen geben. Außerdem hilft uns die Operationsnarbe, die Knochen zu datieren. Gemessen an heutigen Standards, sind die Trepanationslöcher zu groß.
    Mitte der achtziger Jahre waren die chirurgischen Instrumente schon weiter entwickelt als das hier. Schlanker. Die Perforationen waren kleiner. Ich hoffe, das alles hilft Ihnen weiter.«
    Bosch nickte. »Was ist mit den Zähnen? Gibt es dazu irgendwas?«
    »Der Unterkiefer fehlt uns«, sagte Golliher. »An den vorhandenen oberen Zähnen gibt es trotz Anzeichen von Ante-mortem-Verfall keinerlei Hinweise auf eine Zahnbehandlung. Das allein ist bereits ein Hinweis. Ich glaube, es siedelt den Jungen in den unteren Gesellschaftsschichten an. Er ist nicht zum Zahnarzt gegangen.«
    Edgar hatte seinen Atemschutz auf den Hals hinabgezogen. Seine Miene war gequält.
    »Wenn dieser Junge wegen des Hämatoms im Krankenhaus war, warum hat er dort den Ärzten nicht erzählt, was mit ihm los war? Was ist mit seinen Lehrern, seinen Freunden?«
    »Die Antwort darauf kennen Sie genauso gut wie ich, Detective«, sagte Golliher. »Kinder sind von ihren Eltern abhängig. Sie haben Angst vor ihnen, und sie lieben sie, wollen sie nicht verlieren. Manchmal gibt es keine Erklärung, warum sie nicht um Hilfe rufen.«
    »Und was ist mit diesen ganzen Brüchen? Warum haben das die Ärzte nicht gemerkt und etwas unternommen?«
    »Das ist die Ironie dessen, was ich mache. Ich kann die Geschichte und die Tragödie ganz deutlich sehen. Aber bei einem lebenden Patienten muss das keineswegs so offensichtlich gewesen sein. Wenn die Eltern eine einleuchtende Erklärung für die Verletzung des Jungen hatten, welche Veranlassung hätte da für einen Arzt bestanden, einen Arm oder ein Bein oder den Brustkorb zu röntgen? Keine. Und so blieb der Albtraum unbemerkt.«
    Sichtlich nicht überzeugt, ging Edgar kopfschüttelnd in die hinterste Ecke des Raums.
    »Sonst noch was, Doktor?«, fragte Bosch.
    Golliher sah in seinen Aufzeichnungen nach, dann verschränkte er die Arme.
    »Auf wissenschaftlicher Ebene wäre das alles – Sie bekommen den Befund. Auf einer rein persönlichen Ebene hoffe ich, dass Sie den Menschen finden, der das getan hat. Er hat auf jeden Fall verdient, was er dafür kriegt, und noch ein bisschen mehr.«
    Bosch nickte.
    »Wir kriegen ihn«, sagte Edgar. »Machen Sie sich da mal keine Sorgen.«
    Sie verließen das Gebäude und stiegen in Boschs Auto. Einen Moment saß Bosch bloß da. Als er schließlich mit der Handkante auf das Lenkrad drosch, schoss ein stechender Schmerz die lädierte Seite seines Brustkorbs

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