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Kein Engel so rein

Kein Engel so rein

Titel: Kein Engel so rein Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Connelly
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leben.
    »Ich muss mir das Gesicht waschen«, sagte er plötzlich. »Sie können ruhig weitermachen.«
    Er drückte Edgar Notizblock und Stift in die Hand und ging zur Tür. Auf dem Gang wandte er sich nach rechts. Er kannte sich in der Autopsie aus und wusste, dass hinter der nächsten Biegung des Gangs eine Toilette war.
    Er betrat die Toilette und ging sofort in ein offenes Abteil. Ihm war übel, und er wartete, aber es passierte nichts. Nach einer Weile ging es vorüber.
    Gerade als Bosch das Abteil verließ, ging die Tür zum Gang auf, und Teresa Corazons Kameramann kam herein. Einen Moment sahen sich die beiden Männer misstrauisch an.
    »Gehen Sie«, sagte Bosch. »Kommen Sie später wieder.«
    Wortlos drehte sich der Mann um und ging nach draußen.
    Bosch trat ans Waschbecken und sah sich im Spiegel an. Sein Gesicht war rot. Er bückte sich und schaufelte sich mit den Händen kaltes Wasser in Gesicht und Augen. Er dachte an Taufen und zweite Chancen. Zur Erneuerung. Er hob das Gesicht, bis er sich wieder selbst ansah.
    Diesen Kerl werde ich kriegen.
    Fast sagte er es laut.
    Als Bosch in Suite A zurückkehrte, ruhten alle Augen auf ihm. Edgar gab ihm seinen Notizblock und den Stift zurück, und Golliher fragte, ob alles in Ordnung sei.
    »Ja, alles in Ordnung.«
    »Falls es Ihnen ein Trost ist«, sagte Golliher, »ich hatte Fälle auf der ganzen Welt. Chile, Kosovo, sogar im World Trade Center. Aber dieser Fall …«
    Er schüttelte den Kopf.
    »Es ist schwer zu begreifen«, fügte er hinzu. »Es ist einer von denen, in denen man notgedrungen denkt, dass es für den Jungen wahrscheinlich besser war, diese Welt zu verlassen. Das heißt natürlich nur, wenn man an einen Gott und an einen besseren Ort als diesen glaubt.«
    Bosch ging zu einer Arbeitstheke und zog ein Papiertuch aus einem Spender. Er fing an, sich noch einmal das Gesicht abzuwischen.
    »Und wenn man das nicht tut?«
    Golliher kam zu ihm.
    »Na ja, wissen Sie, das ist, warum man glauben muss«, sagte er. »Wenn dieser Junge aus dieser Welt nicht auf eine höhere Ebene gekommen ist, an einen besseren Ort, dann … dann sind wir, glaube ich, alle verloren.«
    »Hat Ihnen das auch geholfen, als Sie die Knochen aus dem World Trade Center untersucht haben?«
    Bosch bereute sofort, etwas so Hartes gesagt zu haben. Aber Golliher schien es ihm nicht krumm zu nehmen. Er antwortete, bevor Bosch sich entschuldigen konnte.
    »J a, hat es«, sagte er. »Mein Glaube wurde durch die Grauenhaftigkeit oder die Ungerechtigkeit dieser vi elen Tode nicht erschüttert. In vieler Hinsicht wurde er sogar gestärkt. Er hat mir ermöglicht, das durchzustehen.«
    Bosch nickte und warf das Papierhandtuch in einen Abfalleimer, dessen Deckel sich mit einem Fußhebel öffnen ließ. Er fiel mit einem blechernen Scheppern zu, als er den Fuß vom Pedal nahm.
    »Und was war nun die Todesursache?«, fragte er, um wieder auf den Fall zurückzukommen.
    »Wir können gern vorgreifen, Detective«, sagte Golliher. »Alle Verletzungen, ob nun hier besprochen oder nicht, werden in meinem Bericht aufgeführt.«
    Er ging zum Tisch zurück und nahm den Schädel. Er hielt ihn mit einer Hand dicht an seiner Brust, als er ihn zu Bosch brachte.
    »Am Schädel haben wir das Schlechte – und möglicherweise auch das Gute«, sagte Golliher. »Der Schädel weist drei verschiedene Frakturen auf, die sich in unterschiedlichen Heilungsstadien befinden. Hier ist die erste.«
    Er deutete auf eine Stelle am hinteren unteren Bereich des Schädels.
    »Diese Fraktur ist klein und verheilt. Hier können Sie sehen, dass die Läsionen vollständig konsolidiert sind. Dann, als Nächstes, haben wir diese ernstere Verletzung am rechten Scheitelbein, die bis zum Stirnbein reicht. Diese Verletzung machte einen operativen Eingriff erforderlich, höchstwahrscheinlich wegen eines subduralen Hämatoms.«
    Um den verletzten Bereich anzuzeigen, kreiste er mit dem Zeigefinger über der oberen Vorderseite des Schädels. Dann deutete er auf fünf kreisförmig angeordnete kleine, glatte Löcher.
    »Das ist ein Trepanationsmuster. Bei einer Trepanation wird der Schädel geöffnet, entweder für eine Operation oder um bei Hirnschwellungen den Druck zu reduzieren. In diesem Fall handelte es sich wahrscheinlich um eine Schwellung infolge eines Hämatoms. Nun zeigen die Fraktur selbst und die Operationsnarbe Ansätze einer Überbrückung zwischen den Läsionen. Neues Knochengewebe. Ich würde sagen, diese Verletzung und die darauf

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