Kein Engel so rein
gemacht?«
»Mein Sergeant, er hieß Rosser, ging mit mir hinter das Verwaltungsgebäude. Dort gab es eine Ziegelmauer. Gegen die ließ er mich dreschen. Bis jeder meiner Knöchel aufgeplatzt war. Und als sie nach einer Woche wieder einigermaßen verschorft waren, ließ er mich das Ganze noch mal machen.«
»Um Himmels willen, das ist ja barbarisch.«
»Nein, das ist die Army.«
Er musste lächeln bei dem Gedanken an die Vergangenheit. Es war nicht so schlimm gewesen, wie es sich anhörte. Er blickte auf seine Hände hinab. Die Musik endete, und er stand auf und ging nackt durchs Haus, um was Neues aufzulegen. Als er ins Schlafzimmer zurückkam, erkannte sie die Musik.
»Clifford Brown?«
Er nickte und kam ans Bett. Er glaubte nicht, dass er mal eine Frau gekannt hatte, die Jazzmusik so gut identifizieren konnte.
»Bleib da stehen.«
»Was?«
»Ich möchte dich ansehen. Erzähl mir von den anderen Narben.«
Das Schlafzimmer war durch das Licht aus dem Bad nur schwach erleuchtet, aber Bosch wurde sich seiner Nacktheit bewusst. Er war in guter körperlicher Verfassung, aber er war über fünfzehn Jahre älter als sie. Er fragte sich, ob sie jemals mit einem so alten Mann zusammen gewesen war.
»Harry, du siehst super aus. Du machst mich total an, ja? Was hat es mit den anderen Narben auf sich?«
Er berührte das dicke Seil aus Haut über seiner linken Hüfte.
»Das hier? Das war ein Messer.«
»Wo ist das passiert?«
»In einem Tunnel.«
»Und die an deiner Schulter?«
»Eine Kugel.«
»Wo?«
»In einem Tunnel.«
»Oh, dann halte dich lieber von Tunnels fern.«
»Ich werd’s versuchen.«
Er stieg ins Bett und zog das Laken hoch. Sie berührte ihn an der Schulter, fuhr mit dem Daumen über die verdickte Narbenhaut.
»Direkt in den Knochen«, sagte sie.
»Ja, ich hatte Glück. Kein bleibender Schaden. Im Winter und wenn es regnet, habe ich Schmerzen, aber das ist auch schon alles.«
»Wie war es? Angeschossen zu werden, meine ich.«
Bosch zuckte mit den Schultern.
»Es tat höllisch weh, und dann wurde alles irgendwie so komisch taub.«
»Wie lange hast du deswegen liegen müssen?«
»Etwa drei Monate.«
»Bist du nicht wegen Invalidität entlassen worden?«
»Sie haben es mir angeboten. Ich habe abgelehnt.«
»Wieso?«
»Ich weiß auch nicht. Wahrscheinlich mag ich den Job einfach. Und ich dachte mir, wenn ich dabei bleibe, lerne ich eines Tages eine schöne junge Polizistin kennen, die mächtig beeindruckt ist von meinen ganzen Narben.«
Sie boxte ihn in die Rippen, und er verzog vor Schmerzen das Gesicht.
»Mein armer Liebling«, sagte sie in spöttischem Ton.
»Das hat weh getan!«
Sie berührte die Tätowierung auf seiner Schulter.
»Was soll das eigentlich darstellen, Micky Maus auf LSD?«
»So was Ähnliches. Eine Tunnelratte.«
Aus ihrer Miene wich jede Spur von Humor.
»Was hast du denn plötzlich?«
»Du warst in Vietnam.« Sie hatte sich alles zusammengereimt. »Ich war mal in diesen Tunnels.«
»Wie meinst du das?«
»Auf meinen Reisen. Ich war sechs Wochen in Vietnam. Diese unterirdischen Gänge, sie sind inzwischen so eine Art Touristenattraktion. Man zahlt Eintritt, um sie besichtigen zu dürfen. Das muss … was du dort unten tun musstest, muss ziemlich beängstigend gewesen sein.«
»Hinterher war es schlimmer. Sobald man anfing, darüber nachzudenken.«
»Sie hatten Seile gespannt, damit man sich nicht verläuft. Aber es passt niemand auf einen auf. Ich bin unter einem Seil durchgeschlüpft und weiter rein. Es wurde so dunkel da unten, Harry.«
Bosch betrachtete ihre Augen.
»Und? Hast du es gesehen?«, fragte er ruhig. »Das verlorene Licht?«
Sie hielt seinem Blick eine Weile stand und nickte.
»Ich habe es gesehen. Meine Augen gewöhnten sich an das Dunkel, und es gab Licht. Fast wie ein Flüstern. Aber es hat ausgereicht, um den Weg zu finden.«
»Das verlorene Licht. Wir nannten es verlorenes Licht. Wir bekamen nie raus, woher es kam. Aber es war da, eindeutig. Wie Rauch, der in der Dunkelheit hängt. Es gab Leute, die sagten, es wäre kein Licht, es wären die Geister von allen, die da unten gestorben sind. Von beiden Seiten.«
Danach sprachen sie nicht mehr. Sie hielten sich in den Armen, und bald war sie eingeschlafen.
Bosch merkte, dass er über drei Stunden nicht an den Fall gedacht hatte. Zuerst bekam er deswegen ein schlechtes Gewissen, aber dann konnte er doch loslassen und war auch bald eingeschlafen. Er träumte, dass er sich durch
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