Kein Engel so rein
sehen. Der Killerfisch schien sich direkt auf die Kamera – und wer dahinter war – zu stürzen. Am Rand des Fotos konnte Bosch eine der Eisenstangen des Käfigs sehen, durch den der Fotograf – er nahm an, es war Brasher – geschützt worden war.
Auf einem anderen Foto stand Brasher irgendwo im australischen Outback zwischen zwei Aborigines. Und es gab noch eine Reihe weiterer Fotos von ihr, auf denen sie mit allen möglichen Rucksacktouristen in den unterschiedlichsten exotischen oder bizarren Landschaften, die Bosch nicht so ohne weiteres einordnen konnte, zu sehen war. Auf keinem der Fotos, auf denen Julia abgebildet war, blickte sie in die Kamera. Ihr Blick war immer in die Ferne oder auf eine der anderen mit ihr abgelichteten Personen gerichtet.
Ganz hinten auf dem Sims, wie hinter den anderen Fotos versteckt, befand sich ein kleines, goldgerahmtes Foto einer wesentlich jüngeren Julia Brasher mit einem geringfügig älteren Mann. Bosch nahm es hinter den anderen Aufnahmen heraus, um es sich genauer anzusehen. Das Paar befand sich in einem Restaurant oder möglicherweise auch bei einer Hochzeitsfeier. Julia trug ein tief ausgeschnittenes beiges Abendkleid, der Mann einen Smoking.
»Du weißt, in Japan wird dieser Mann verehrt wie ein Gott«, rief Julia aus der Küche.
Bosch stellte das gerahmte Foto an seinen Platz zurück und ging in die Küche. Sie trug das Haar offen, und er hätte nicht sagen können, wie es ihm besser gefiel.
»Bill Evans?«
»Ja. Anscheinend haben sie dort ganze Radiosender, die nur seine Sachen spielen.«
»Sag bloß, du warst auch in Japan.«
»Etwa zwei Monate. Ein tolles Land.«
Soweit Bosch sehen konnte, machte sie einen Risotto mit Hühnchen und Spargel.
»Riecht gut.«
»Danke. Hoffentlich schmeckt es auch so.«
»Und wovor bist du eigentlich weggelaufen?«
Sie blickte von ihrer Beschäftigung am Herd zu ihm auf. Die Hand mit dem Kochlöffel hielt inne.
»Was?«
»Du weißt schon, die vielen Reisen. Du steigst aus Daddys Kanzlei aus, um unter Haien zu tauchen und auf Vulkane zu steigen. War’s der alte Herr oder die Kanzlei, die dem alten Herrn gehört hat?«
»Manche Leute würden es eher so sehen, dass ich auf etwas zugelaufen bin.«
»Auf den Mann im Smoking?«
»Harry, leg deine Waffe ab. Lass deine Dienstmarke am Eingang. Das tue ich immer.«
»Entschuldigung.«
Sie wandte sich wieder ihrer Arbeit am Herd zu, und Bosch stellte sich hinter sie. Er legte die Hände auf ihre Schultern und drückte die Daumen in die Vertiefungen neben ihrer Wirbelsäule. Sie leistete keinen Widerstand. Bald spürte er, wie sich ihre Muskeln entspannten. Er bemerkte ihr leeres Weinglas auf der Arbeitsplatte.
»Ich hole die Weinflasche.«
Er kam mit seinem Glas und der Flasche zurück. Er schenkte ihr nach, und sie hob ihr Glas und stieß damit gegen seines.
»Ob nun vor etwas weg oder auf etwas zu«, sagte sie. »Aufs Laufen. Einfach nur aufs Laufen.«
»Und was ist mit ›Halt fest‹?«
»Darauf auch.«
»Und auf Vergebung und Versöhnung.«
Sie stießen wieder an. Er stellte sich wieder hinter sie und machte sich daran, ihren Nacken zu massieren.
»Ich habe übrigens gestern noch die ganze Nacht über deine Geschichte nachgedacht, als du gegangen bist«, sagte sie.
»Meine Geschichte?«
»Über die Kugel und den unterirdischen Gang.«
»Und?«
Sie zuckte mit den Schultern.
»Nichts. Sie ist einfach irre, mehr nicht.«
»Weißt du, nach diesem Erlebnis hatte ich plötzlich keine Angst mehr, wenn ich in der Dunkelheit unten war. Ich wusste einfach, dass ich überleben würde. Warum, kann ich nicht erklären, ich wusste es einfach. Was natürlich idiotisch war, denn dafür gibt es keine Garantie – weder damals in Vietnam noch sonst irgendwo. Jedenfalls wurde ich davon ein bisschen zu waghalsig.«
Einen Moment bewegte er seine Hände nicht mehr.
»Es ist nicht gut, zu waghalsig zu werden«, fuhr er fort. »Man muss die Röhre nur einmal zu oft kreuzen, und schon ist man dran.«
»Willst du mir hier einen Vortrag halten, Harry? Möchtest du jetzt mein Ausbilder sein?«
»Nein. Ich habe meine Dienstwaffe und die Marke an der Tür abgegeben, hast du das schon wieder vergessen?«
»Na, dann gut.«
Seine Hände blieben weiter an ihrem Nacken, als sie sich umdrehte und ihn küsste. Dann wich sie wieder von ihm zurück.
»Weißt du, das Tolle an diesem Risotto ist, dass wir ihn so lang im Backofen lassen können, wie wir wollen.«
Bosch grinste.
Später,
Weitere Kostenlose Bücher