Kein Engel so rein
nachdem sie sich geliebt hatten, stand Bosch auf und ging ins Wohnzimmer.
»Wo willst du hin?«, rief sie ihm hinterher.
Als er nicht antwortete, rief sie, er solle die Hitze höher stellen. Er kam mit dem goldgerahmten Foto ins Schlafzimmer zurück. Er schlüpfte ins Bett und machte die Nachttischlampe an. Es war eine schwache Birne unter einem dunklen Lampenschirm. Im Zimmer war es nicht merklich heller geworden.
»Harry, was machst du da?« Sie sagte das in einem Ton, der ihn warnte, dass er sich auf gefährliches Terrain begab. »Hast du den Herd höher gestellt?«
»Ja, auf hundertachtzig. Erzähl, was war mit diesem Typ?«
»Warum?«
»Weil ich es wissen will.«
»Das ist sehr persönlich.«
»Ich weiß. Aber mir kannst du es trotzdem erzählen.«
Sie versuchte, ihm das Foto wegzunehmen, aber er hielt es außer ihrer Reichweite.
»War er das? Hat er dir das Herz gebrochen? Bist du deshalb weggelaufen?«
»Harry, ich dachte, du hättest deine Dienstmarke abgelegt.«
»Habe ich auch. Und meine Kleider, alles.«
Sie lächelte.
»Trotzdem, ich erzähle dir nichts.«
Sie lag auf dem Rücken, den Kopf auf dem Kissen. Bosch stellte das Foto auf den Nachttisch, dann drehte er sich wieder zu ihr herum und schmiegte sich an sie. Unter dem Laken streckte er den Arm über ihren Körper und zog sie fest an sich.
»Sollen wir vielleicht wieder Narben tauschen? Ich habe mir zwei Mal von derselben Frau das Herz brechen lassen. Und weißt du was? ich habe ihr Foto sehr lang in meinem Wohnzimmer stehen gehabt. Dann beschloss ich am Neujahrstag, dass es lang genug da gestanden hatte. Ich habe ihr Foto weggetan. Dann wurde ich zu einem Einsatz gerufen und bin dir begegnet.«
Als sie ihn daraufhin ansah, wanderten ihre Augen kaum merklich hin und her, als suchte sie in seiner Miene nach etwas, vielleicht einem Anflug von Unaufrichtigkeit.
»Ja«, sagte sie schließlich. »Er hat mir das Herz gebrochen. Bist du jetzt zufrieden?«
»Nein. Wer ist der Scheißkerl?«
Sie begann zu lachen.
»Harry, du bist mein Ritter in rostiger Rüstung, habe ich Recht?«
Als sie sich in eine sitzende Haltung aufrichtete, rutschte das Laken von ihren Brüsten. Sie verschränkte die Arme über ihnen.
»Er arbeitete in der Kanzlei. Ich war total in ihn verknallt – bis über beide Ohren. Und dann … dann meinte er plötzlich, es wäre aus. Und er dachte, er müsste mich auch noch verraten und meinem Vater geheime Dinge erzählen.«
»Was für Dinge?«
Sie schüttelte den Kopf.
»Dinge, die ich keinem Mann mehr erzählen werde.«
»Wo wurde dieses Foto aufgenommen?«
»Ach, bei irgendeiner Feier in der Kanzlei – wahrscheinlich bei einem Neujahrsbankett, ich weiß es nicht mehr. Es gab ständig welche.«
Bosch war inzwischen hinter ihr zu liegen gekommen. Er beugte sich vor und küsste ihren Rücken, direkt über der Tätowierung.
»Ich hielt es dort nicht mehr aus, solange er da war. Deshalb kündigte ich. Ich sagte, ich wollte auf Reisen gehen. Mein Vater dachte, es wäre eine Art Midlife Crisis, weil ich gerade dreißig geworden war. Ich ließ ihn in dem Glauben. Aber dann musste ich tun, was ich gesagt hatte, dass ich tun wollte – reisen. Zuerst flog ich nach Australien. Das war so ziemlich am weitesten weg.«
Bosch stützte sich auf und stopfte sich zwei Kissen in den Rücken. Dann zog er sie wieder an seine Brust. Er küsste ihren Scheitel und vergrub seine Nase in ihrem Haar.
»Ich hatte in der Kanzlei eine Menge Geld verdient«, fuhr sie fort. »Finanziell musste ich mir also keine Sorgen machen. Ich war ständig unterwegs, fuhr, wohin ich gerade Lust hatte, nahm irgendwelche Jobs an, wenn mir danach war. Ich war fast vier Jahre von zu Hause weg. Und als ich schließlich zurückkam, bewarb ich mich für die Academy. In Venice gibt es an der Promenade so eine kleine Sozialdienststation. Da bin ich einfach rein, als ich dran vorbeikam, und hab eine Broschüre mitgenommen. Danach ging alles ganz schnell.«
»Deine Vergangenheit ist voll von impulsiven und potentiell gefährlichen Entscheidungen. Wie kommt es, dass du nicht schon im Vorfeld ausgesiebt worden bist?«
Als sie ihm darauf behutsam den Ellbogen in die Rippen stieß, zuckte er vor Schmerzen zusammen.
»Oh, Harry, Entschuldigung. Das habe ich ganz vergessen.«
»Von wegen.«
Sie lachte.
»Habt ihr alten Hasen denn noch immer nicht mitgekriegt, dass die Polizei seit ein paar Jahren verstärkt nach ›reifen‹ Kadettinnen sucht, wie sie es nennen?
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