Kein Entrinnen
sie die Entdeckung der Leiche ihrer Angehörigen vertuscht hatten. Wie er vorhergesehen hatte, erhielt Sheridan einen Anruf der alten Tante von Amy Austen. Sie verfluchte ihn.
Auf Frank Franklin fiel nicht der geringste Verdacht. Aus gutem Grund. Weil es keine Verbindung zu Boz gab, gab es auch keine zu Franklin. Nur sein Gewissen war am Boden zerstört. Er hatte den Tod von vier seiner Studenten verschuldet. Er hatte die Eltern der Opfer persönlich in Durrisdeer empfangen müssen und versucht, angemessene Worte zu finden. Obwohl er genau wusste, wer hinter der Tragödie steckte, konnte er mangels Beweisen nichts darüber sagen. Er konnte nicht einmal seine Verwicklung in die Ereignisse erwähnen. Diese Selbstvorwürfe fraßen ihn innerlich auf. Er konnte nicht mehr schlafen.
»Mir will einfach nicht in den Kopf, wie Boz es angestellt hat, sich so gut abzusichern!«, wetterte Sheridan im Büro. »Man könnte meinen, es wäre ein Kinderspiel für ihn gewesen.«
Die Untersuchungen über den Tod der vier Studenten verliefen ergebnislos. Keine Spur vom Mörder. Boz wurde verhört wie alle Welt, doch vergeblich. Und er hatte zwei Alibis:
»Die Aufnahme der Überwachungskamera am Portal ist eindeutig«, erklärte Melanchthon. »Er kam mit dem Taxi um 14 Uhr 15 in Durrisdeer an. Norris Higgins holte ihn in seinem Pick-up ab. Anschließend gingen sie zu dem Verwalter, um ein Gläschen zu trinken und zu plaudern. Higgins schwört bei allem, was ihm heilig ist, dass Boz ihn keine Sekunde lang verlassen hat. Sie haben über Bücher und die Verwaltung der Domäne gesprochen. Dann brachte Higgins ihn zu dem Vortrag ins Theater. Alibi Nummer eins.«
»Also ist Boz schon früher in Durrisdeer angekommen, um die Mitglieder des Klubs der Schreiber in die Falle zu locken!«, wandte Franklin ein.
Die Autopsie der Leichen hatte den Todeszeitpunkt auf eine Zeitspanne von weniger als drei Stunden eingegrenzt, doch die feuchte und abgestandene Luft hatte den Verwesungsprozess beeinflusst, sodass eine exakte Angabe nicht mehr möglich war.
»Zweifellos«, antwortete Melanchthon. »Aber man müsste es beweisen. Im Augenblick kann der Irre seelenruhig schlafen! Er hat Higgins und dreihundert Studenten in einem Theater. Alibi Nummer zwei. Und von unserer Seite ermittelt niemand mehr gegen ihn! Ich glaube sogar, dass die ihn betreffenden Akten zerstört werden.«
Franklin schüttelte den Kopf.
»Das einzig Handfeste ist der erste Schuss! Der, der uns zum Labyrinth geführt hat. Er muss ihn abgegeben haben! Und er war noch nicht im Theater.«
»Ja, das wissen wir«, meinte Melanchthon. »Aber noch mal, das genügt nicht. Wie immer. Keine Spuren, keine Fingerabdrücke, sein Anzug weist keinerlei Pulverrückstände auf. Wir haben eine Pistole, stimmt. Aber zu allem Überfluss ist es nicht die, mit der die Morde begangen wurden! Und der PVC-Overall gibt auch nichts her.«
Ein Schweigen trat ein. Die Bilanz war katastrophal.
»Unser gravierendster Fehler«, sagte Sheridan schließlich, »war, dass wir über die vierundzwanzig Leichen hinweggesehen haben. Wir haben uns von Boz einnebeln lassen, uns nur auf seine Taten und Bewegungen konzentriert und auf unsere Mittel, ihn in die Enge zu treiben. Und den ganzen Beginn der Affäre haben wir schweigend übergangen. Wir haben nie einen Sinn in diesem Massaker entdeckt. Wir haben uns damit abgefunden.«
Melanchthon zuckte mit den Schultern.
»Es schien für alle offensichtlich, dass Boz sich mit wenig Aufwand einer alten Geschichte entledigte, indem er seine Versuchskaninchen auf diese Art liquidierte und seinen Bunker und seine Videos der Entdeckung preisgab.«
»Aber er hat gar nichts beendet!«, beharrte der Colonel. »Die vierundzwanzig waren ein Anfang … Sie waren der große Auftakt, und wir haben nichts begriffen …«
Neuerliches Schweigen.
Schließlich ergriff Franklin wieder das Wort.
»Sie waren sogar sein Köder.«
»Was?«
»Ich bin kein Fachmann, aber im Allgemeinen packt man einen serial killer doch an seinem Stolz, um ihn zu fassen, nicht wahr, Agent Melanchthon? Man bringt ihn dazu, dass er einen Fehler begeht.«
»Ja«, antwortete sie. »Man pfuscht ihm in seine Pläne, man macht ihn kirre, man verletzt ihn in seinem Stolz, bis er durchdreht. Am Ende lässt er sich zu überstürzten Handlungen hinreißen und begeht dabei stets den Fehler, durch den er sich uns ausliefert.«
»Nun, wenn man darüber nachdenkt, dann hat Boz genau das mit Ihnen gemacht!«, bemerkte
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