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Kein Entrinnen

Titel: Kein Entrinnen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Romain Sardou
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an.
    »Trinken Sie Ihren Kaffee nicht? Er wird kalt werden.«
    »Doch, natürlich.«
    Er folgte rasch ihrer Aufforderung. Indessen erhob sich Sonia Barisonek, um eine Kerze auf dem Kamin anzuzünden. Dann ergriff sie einen Aschenbecher und stellte ihn auf der Lehne ihres Sessels ab. Sie nahm wieder Platz und zündete sich eine Zigarette an.
    »Meine Schwester Jackie war ein bisschen flatterhaft«, sagte sie. »Sehr, um die Wahrheit zu sagen. Die Männer, das überkam sie wie der Durst. Amy hoffte, dass ihr Vater, wer es auch sein mochte, noch am Leben war. Aber ich konnte ihr nicht im Geringsten helfen. Jackie hatte mir nie etwas über ihn erzählt. Das Mädchen war übrigens sehr böse auf seine Mutter, weil sie sich umgebracht hatte, ohne ein Wort oder einen Hinweis für sie zu hinterlassen.«
    »Das muss schwer gewesen sein für sie.«
    »Für alle, Officer. Amy war nicht einfach. Die Frage nach ihrer Herkunft ist zu einer regelrechten Besessenheit geworden, und am Ende hat die Sache … jeden vernünftigen Rahmen gesprengt.«
    Damit drückte sie ihre Zigarette aus. Wie viele alte Menschen hatte sie kaum daran gezogen.
    »Ich habe Ihnen schon gesagt, dass Amy sehr viel las. Das hat ihr eine überbordende Fantasie beschert, um es einmal so auszudrücken. Und für manche Menschen kann eine allzu große Vorstellungskraft direkt gefährlich werden … Kommen Sie, sehen Sie selbst.«
    Die alte Dame erhob sich mühsam und führte Sheridan in den ersten Stock. Während der Duft der Kerze hinter dem Polizisten zurückblieb, erkannte er im Hinaufgehen den diffusen Geruch von Weihrauch. Reinem Weihrauch wie in der Kirche, nicht wie von Räucherstäbchen. Je mehr er sich Amys Tür näherte, umso unverkennbarer wurde der Geruch. Angesichts dieses Vorzeichens stellte er sich auf eine Unmenge von religiösen Reliquien, Kruzifixen und Kerzen ums Bett ein. Das Mädchen, das bald verschwinden sollte, um am Ende in Nevada auf dem Strich zu landen, hatte wohl eine mystische Krise durchgemacht, wie sie für Heranwachsende mit übermächtigem Weltschmerz typisch war. Für Mädchen, die an ihrem Vater, an den Männern litten. In solchen Phasen war Jesus Christus ein perfekter Ersatz.
    Aber das war nicht der Fall.
    »Ich habe ihr Zimmer nicht angerührt«, bemerkte Sonia. »Nach all der Zeit sieht es noch so aus, als hätte sie es gestern erst verlassen.«
    Sheridan erblickte rosa Kissen, Puppen und Fotos von Schauspielern. Nichts als völlig banale Dinge für eine Heranwachsende. Dann weitere Fotos, Figuren, Teile von Federschmuck, alte Karten, Quilts in leuchtenden Farben … Absolut alles war von der Geschichte der indianischen Ureinwohner inspiriert. Von ihrer großen Blütezeit. Es war kitschig bis zum Anschlag. Doch Sheridan hatte schon Zimmer mit Reggae, Hippie, Punk oder Gothic Styling gesehen. Warum also nicht die amerikanischen Ureinwohner?
    Den Rest der Wände nahm eine Unmenge von Büchern ein.
    »Etwa mit dreizehn Jahren«, fuhr die Tante fort, »versuchte Amy in ihrem Gesicht die Züge, die sie von ihrer Mutter hatte, und die, die zwangsläufig von ihrem Vater stammen mussten, zu unterscheiden. Sie wollte anhand ihres eigenen Gesichts eine Art »Phantombild« dieses Mannes rekonstruieren.«
    Sheridans Blick fiel auf ein gerahmtes Foto.
    »Ist sie das?«
    »Ja. Sie sieht großartig aus, finden Sie nicht?«
    Es traf zu. Bis jetzt hatte er immer nur Fotos ihres Leichnams gesehen. Die braune, schimmernde Haut, die langen schwarzen Wimpern und der volle Mund waren verschwunden hinter der grünlich marmorierten Haut, den bereits milchweißen Augenhöhlen und der Haut, die schon auf der Schädeldecke zu schrumpfen begann … Das Porträt einer Circe, das waren Sheridans Gedanken, als er Amy Austen sah.
    »Wie Sie auf dem Foto erkennen können«, sagte die Tante, »hatte sie eine dunkle Hautfarbe, eine gerade Nase und Stirn und pechschwarze Haare. Ich weiß nicht, wer ihr diesen Floh ins Ohr gesetzt hat, aber sie war schließlich davon überzeugt, dass sie indianisches Blut hatte. Anfangs war das noch unterhaltsam, dann aber geriet diese fixe Idee außer Kontrolle. Sie wollte ihren Stamm wiederfinden, sich »den Ihren« anschließen. Ihre Stimmung schwankte von Monat zu Monat. Ich erkannte sie nicht wieder.«
    »Sie nahm Drogen«, dachte Sheridan.
    Die Frau war den Tränen nahe. Stuart reichte ihr ein Taschentuch.
    Dann inspizierte er schweigend die Einrichtung des Zimmers. Er war keineswegs unglücklich darüber, die vielen

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