Kein Entrinnen
verschwinden ließ.«
Er wandte sich wieder dem Professor zu.
»Viele Ideen sind mir so eingefallen. Durch Zufall. Ich liebe den empirischen Teil meiner Arbeit. So ähnlich wie die Journalisten auf einen Knüller stoßen, stößt ein Schriftsteller auf seine Ideen!«
Franklin setzte sich und holte sein Notizbuch hervor, um Boz’ Worte aufzuschreiben. Flüchtig fiel sein Blick auf den schwarzen Knauf der Sig Sauer unten in seiner Tasche. Er bemühte sich, alles genau zu beobachten und sich so viele Einzelheiten wie möglich einzuprägen, um sie später den FBI-Beamten mitzuteilen.
»Und jetzt?«, ergriff Boz wieder das Wort, während er schließlich vom Fenster wegging. »Wie wollen Sie mit diesen Interviews verfahren? Unter welchem Aspekt sehen Sie die Dinge?«
Wie er die Dinge sah? Franklin sah nur eines: das Ende. Eine Razzia des FBI, ein ausführliches Geständnis und Boz in den Knast. Dann der elektrische Stuhl.
»Mir scheint, vier Sitzungen à zwei Stunden müssten reichlich genug sein, damit ich mir durch meine Fragen ein Bild Ihrer Person machen kann«, sagte der Professor. »Danach liegt die Hauptarbeit bei mir: Ihre Romane noch einmal lesen und kommentieren.«
»Ich verstehe.«
»Stellen Sie sich auf Überraschungen ein, auf Differenzen Ihrerseits mit meinen ersten Schlussfolgerungen. Darin genau liegt die Schwierigkeit bei diesem Projekt. Beim vorhergehenden bestand keine Gefahr für mich, dass ich von James oder Hemingway heruntergeputzt würde, weil ich angeblich lauter Plattheiten über sie verbreitete.«
»Wir werden natürlich über all das diskutieren.«
Boz schenkte sich einen Cocktail ein und brachte Franklin eine Dose Limonade: Dieses Mal machte er sich nicht die Mühe, ihm ein Glas anzubieten, er hatte verstanden. Er setzte sich in einen Sessel, von dem aus er den Park im Blick hatte. Etwas beunruhigte ihn.
Franklin stellte seine erste Frage: »Die Berufung zum Schriftsteller entspringt oftmals einer Jugendlektüre. Einer entscheidenden Begegnung mit einem Autor oder einem bestimmten Werk. Trifft das auf Sie zu?«
»In gewisser Weise … Bei mir begann alles mit etwa sechzehn Jahren. Damals fiel mir ein ziemlich fantastisches Märchen von Jordan Crow in die Hände: das Abenteuer eines Soldaten, der alleine einen isolierten Vorposten verteidigte. Der Krieg in seinem fiktiven Land war seit langem zu Ende, aber niemand hatte sich die Mühe gemacht, ihn davon in Kenntnis zu setzen. Sein ganzes Leben lang lag er auf der Lauer vor dem Feind, immer bereit, seine Nachhut zu warnen. Mit der Zeit verlor er ein bisschen den Verstand. Eines Abends, als die Sonne hinter einem Hügel unterging, sah er in der Ferne ein Bataillon Kämpfer anrücken! Der Soldat warf sich mit gezückter Waffe zu Boden. In diesem Augenblick erkannte er, dass sein Hügel nichts weiter als ein Erdhaufen und die Schatten der Soldaten nur eine Ansammlung von Blumen waren, die im Wind schwankten. Der Autor dieses Märchens hatte geschrieben, diese Blumen seien Alraunen gewesen. Ich fand die Vorstellung, dass der Soldat sich wegen einer Invasion von Nachtschattengewächsen auf dem Boden wälzt, sehr witzig … Dann schlug ich in einer Enzyklopädie nach und entdeckte dabei die Abbildung einer Alraune. Diese Blume ist die einzige, die eine beinahe menschliche Gestalt besitzt. Damit gewann die Vision des alten Soldaten eine völlig neue Dimension! An dieser Offenbarung wurde mir alles klar - dass Worte eine Vielzahl von Realitäten verbergen, Geheimnisse zuflüstern und dem Leser die übelsten Streiche spielen können. Alles, was ich später gelesen habe, habe ich mit diesem Gedanken im Hinterkopf, unter diesem kritischen Blickwinkel gelesen, und ich hoffte dabei, wieder auf eine Überraschung wie bei den Alraunen zu stoßen. Doch schon sehr bald war ich tief bestürzt.«
»Bestürzt?«
Boz richtete den Blick auf Franklin.
»Ich musste erkennen, dass Romanschriftsteller oft oberflächlich und ungenau sind, dass sie sich zu Beschreibungen versteigen, die mit Ungenauigkeiten gespickt sind, dass sie ihren Gegenstand nicht kennen. Grob gesagt, dass sie sich falsche Sachen ausdenken. Selbst die bedeutendsten unter ihnen. Das hat mich empört!«
»Ich finde Sie sehr streng. Ein Schriftsteller ist nicht unbedingt ein Fachmann und …«
»Doch in meinen Augen muss er das unbedingt sein! Und aus dieser Feststellung in meiner Jugend erklärt sich mein Werk. Bei mir ist alles klar, präzise, belegt, überprüft … Sehen Sie nur
Weitere Kostenlose Bücher