Kein Fall für Mr. Holmes
melodramatisch – könnte es möglich gewesen sein, daß ich die Wirkung des Sherrys spürte? – verlauten: »Daher, meine liebe Violet Elizabeth Warner, werde ich in der Tat dein Sherlock Holmes sein!«
Mir wurde ein verwirrter Blick und dann ein immer breiter werdendes Lächeln zuteil. »Und ich werde dein Dr. Watson sein!« lautete Violets triumphierende Antwort, während sie sich ebenfalls erhob.
Ich stöhnte innerlich auf und bemühte mich gleichzeitig, ihr ebenfalls so etwas wie ein Lächeln zukommen zu lassen. Ich hatte nicht das Bedürfnis, mich von einer zweiten Person behindern zu lassen, da ich der Ansicht war, daß sich die Ermittlungen am ehesten durchführen ließen, wenn ich allein vorginge. Aber da Violet ebenso mit den auf dem Gut wohnenden Personen wie auch mit den Umständen des Mordes selbst vertraut war, würde sie mir sicherlich sehr wertvolle Dienste erweisen.
»Abgemacht!« rief ich aus.
Wir stießen mit unseren Sherrygläser an und besiegelten so die neue Partnerschaft.
6. Eine außerkörperliche Erfahrung
Wie ein sterbender Körper, der die letzten mitleiderregenden Atemzüge und Seufzer von sich gibt, so knisterte und zischte der im Kamin liegende verkohlte Holzscheit gelegentlich vor sich hin, bis noch einen kurzen Moment lang ein einziger Funke zu sehen war. Dann war auch er verschwunden. Wie auf Kommando ergriff der Wind, der jenseits des Schlafzimmerfensters wild aufheulte, diese Gelegenheit, um seine frostige Gegenwart im ganzen Zimmer spüren zu lassen.
Ich rutschte tiefer unter die Bettdecke.
»Also, Vi«, sagte ich zu meiner neben mir liegenden Kameradin, »wag es ja nicht einzuschlafen, bevor du mir nicht alles, was du über den Mord an Lady St. Clair weißt, erzählt hast.«
»Kann das denn nicht bis morgen früh warten?« lautete die schläfrige Antwort.
»Bis morgen früh! Im Leben nicht! Glaubst du denn, ich könnte schlafen, bevor ich nicht die ganze Geschichte gehört habe?« Ich stieß sie an der Schulter an. »Vi, bitte!«
Widerwillig setzte sie sich im Bett auf, und ich tat es ihr gleich.
»Ich nehme an«, sagte sie und zog die Decke weiter zu uns hoch, »es ist wohl am besten, wenn ich am Anfang beginne, denn sonst…«
»Du kannst anfangen, wo es dir gefällt! Nur fang endlich an!« Ob es auf die späte Stunde zurückzuführen war, weiß ich nicht, aber meine Geduld ließ langsam nach.
»Also wirklich, du gefällst mir!«
»Es tut mir leid, Vi«, hoffte ich sie zu besänftigen. »Bitte erzähl es so, wie du möchtest.«
»Mhm, das hab’ ich ja gerade versucht, oder?« erwiderte Violet auf eine Art, die mein verstorbener Mann immer ihre »süß-saure Antwort« genannt hatte. Das Lächeln war süß, aber die Worte waren sauer. Ich schwieg, während meine Kameradin ihre Augen von mir abwandte und in ihre eigenen, persönlichen Gedanken vertieft zu sein schien.
Schließlich war ein Räuspern ihrerseits zu vernehmen, was bei Violet immer bedeutete, daß sie etwas von immenser Bedeutung zu sagen hatte. Sie sprach zunächst recht leise: »Das heißt natürlich, daß ich dir etwas erzählen muß… etwas von meiner…«
Die restlichen Worte murmelte sie gänzlich unverständlich.
»Verzeih mir, Liebes. Ich habe dich nicht verstanden.« Ich rückte etwas näher an sie heran. »Du sagtest, du müßtest mir etwas erzählen über deine…?«
»Meine Gabe.«
Um sicherzugehen, daß ich sie richtig verstanden hatte, wiederholte ich das Wort. »Gabe?«
»Mhm. Meine Gabe, so nennt man das. Versprich mir, daß du nicht lachst.«
Ich antwortete, indem ich ihr versichernd die Hand drückte.
»Also gut.«
Sie suchte sich eine bequemere Position und begann, ihre Geschichte zu erzählen.
»Du erinnerst dich doch, Liebes, wie wir immer zur Wohnung der alten Bessie hochgegangen sind, um uns wahrsagen zu lassen?«
»Bessie – Bessie Muldoon.« Ich sprach den Namen eher für mich als für Vi aus, und während ich das tat, öffnete sich das Tor der Zeit, und herein flossen meine Erinnerungen mit einer Reihe von Szenen weit zurückliegender Tage. Als Witwe beschränkte sich ihre einzige Einkommensquelle auf das Wahrsagen, entweder indem sie Karten legte oder die am Boden einer leeren Tasse zurückgebliebenen Teeblätter las.
Wenn ich heute darauf zurückschaue, erscheint mir dies alles recht albern. Aber die Abende, die wir mit Bessie verbrachten, hatten wir für uns. Sowohl William als auch Albert wollten natürlich nichts damit zu tun haben und setzten uns beide
Weitere Kostenlose Bücher