Kein Fall für Mr. Holmes
so etwas anschauen muß. Ziemt sich nicht, Sie verstehen.«
»Oh, ja«, erwiderte ich mit einem subtilen Sarkasmus, der Violet mit Stolz erfüllt hätte, »die Regeln gesellschaftlicher Etikette haben selbstverständlich sogar Vorrang vor offiziellen Ermittlungen in einem Mordfall.«
»Ja, genauso ist es«, antwortete er und biß in die Überreste seines Blätterteiggebäcks.
Der Inspektor fürchtete offenbar, daß sich seine Befragung zu einem Teekränzchen entwickeln würde, und versuchte, die Kontrolle über die Situation wiederzugewinnen.
»Bitte, meine Damen und Herren«, sagte er mit erhobener Stimme. »Ich weiß, Ihnen steht heute noch das Begräbnis Ihrer Ladyschaft bevor, wenn Sie mir also noch ein wenig Aufmerksamkeit schenken würden, werde ich Sie nicht länger als nötig aufhalten.«
Während das Durcheinander der Stimmen leiser wurde, nahm Violet die Gelegenheit wahr, unsere leeren Tassen auf den Teewagen zurückzustellen, und kehrte zu ihrem Platz zurück.
»Nun, Mrs. Warner«, wandte sich der Inspektor an Violet, »ich denke, das von Ihnen bewohnte Zimmer geht zum hinteren Teil der Gartenanlagen des Gutes hinaus, wo die Leiche gefunden wurde.«
»Ja, das ist richtig«, antwortete Vi. »Wenn sie dort gefunden wurde.«
»In der Tat, Madam. Neben dem Pfad, der zu dem Pavillon führt, um genau zu sein. Und da Sie zuvor erwähnten, daß sowohl Sie als auch Mrs. Hudson letzte Nacht noch lange wach waren, können Sie mir vielleicht sagen, ob einer von ihnen zufällig etwas Ungewöhnliches gesehen oder gehört hat?«
»Wie hätten wir etwas sehen können? Wir waren im Bett und haben nicht am verflixten Fenster gestanden!«
»Also auch nichts gehört?« Seine Augen rasten zwischen uns hin und her.
»Gehört? Ich nicht. Wobei mein Gehör natürlich nicht mehr so gut wie einst ist. Und du, Em?«
»Etwas gehört?« wiederholte ich fragend. In dem Moment schoß mir die Erinnerung an die vergangene Nacht, an erstickte Stimmen und schmerzvolle Schreie durch den Kopf. Doch die Schreie waren von einem Zimmer innerhalb des Hauses gekommen, dessen war ich mir sicher. Oder nicht? Vielleicht war auch nur eine übermäßige Phantasie im Spiel. Sollte ich es sagen? Und wenn ja, was dann? Ich würde wie eine verrückte alte Frau dastehen. Ich brauchte Zeit, um in Ruhe darüber nachzudenken.
»Nein, nichts«, antwortete ich.
»Ich verstehe.« Der Inspektor tat einen müden Seufzer und steckte dabei seinen Block und den Bleistift wieder in die Tasche. Dann wandte er sich an alle Anwesenden und fragte: »Darf ich davon ausgehen, daß niemand auch nur das geringste über die Verstorbene weiß?«
»Es scheint, Inspektor«, stellte Sir Charles fest, »als sei uns allen die junge Frau vollkommen unbekannt.«
»Zigeunerin, wenn man mich fragt. Hab’ erst letzte Woche einen ihrer Wagen gesehen. Hat sich wahrscheinlich mit ihrer Sippe verkracht, und die haben sie dann fallengelassen. Widerliche Bettler sind das alles«, lautete der Beitrag zum Thema seitens des Colonels.
»Wir werden das natürlich ebenfalls überprüfen«, antwortete Thackeray trocken.
»Guter Mann, guter Mann«, schnaubte der alte Soldat.
»Also vielen Dank, meine Damen und Herren, Sie waren äußerst hilfsbereit«, sagte der Inspektor mit einer geringen oder gar nicht vorhandenen Überzeugung in der Stimme. »Obwohl ich sie vielleicht darauf hinweisen sollte, daß es zu einem späteren Zeitpunkt möglich sein könnte, daß eine weitergehende Befragung notwendig wird. Ich gehe nicht davon aus«, fügte er nachträglich hinzu, »daß jemand vorhat, weitere Reisen zu unternehmen.«
Violet meldete sich zu Wort. »Em, Mrs. Hudson, meine ich, und ich selbst hatten vor, das Gut bis zum Ende der Woche zu verlassen. Obwohl wir jetzt natürlich«, fügte sie mit einem Seitenblick auf die Frau des Baronets hinzu, »vielleicht noch ein wenig länger bleiben sollten. Ich bin sicher, daß es Ihrer Ladyschaft nichts ausmacht. Nicht wahr, Lady Margaret?«
Ein Krokodilslächeln wäre die beste Beschreibung des durchtriebenen Grinsens, welches Violets Frage begleitete.
Die Frau in schwarzem Brokat ignorierte Violet und richtete ihre Antwort an Thackeray. »Ist das wirklich nötig, Inspektor?«
»Wenn sie zumindest noch eine Weile blieben, wäre das tatsächlich günstiger«, antwortete er und fügte hinzu, »denn es handelt sich immerhin um Ermittlungen in einem Mordfall, Mylady.«
Lady Margaret preßte ihre Lippen kaum merklich aufeinander, bevor sich ihr
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