Kein Fall für Mr. Holmes
Gericht anerkannt würde – im Gegensatz zu meiner lediglich persönlichen Annahme, daß das ermordete Opfer vor ihrem frühzeitigen Tod auf dem Gut gewohnt hatte. Aber leider fand ich keinen solchen Ohrring.
Meine Hand traf allerdings auf einen Gegenstand weitaus größeren Ausmaßes. Ich zog sie zurück und sah, daß ich eine kleine Marmorstatue in Form eines Engels mit einer Höhe von ungefähr achtzehn Zoll hervorgeholt hatte. Ich stellte sie vorsichtig auf den Tisch, setzte mich auf das Feldbett und rückte die Kerze etwas näher an meinen Fund heran. Da saß ich nun, fasziniert von der äußeren Schönheit eines unschuldigen kleinen Engels, welcher in den sanften Schein des Kerzenlichts gehüllt war und den Blick gen Himmel gerichtet und die Arme vor Freude und Verehrung ausgestreckt hatte, als hieße er den Schöpfer persönlich zu einer Audienz willkommen. Als ich den Sockel langsam drehte, um dieses vorzügliche Exemplar einer Skulptur – nach meiner Schätzung aus dem 17. Jahrhundert – besser bewundern zu können, war ich entsetzt, als ich an der Seite des Kopfes einen Makel entdeckte, der sich noch weiter über den Rücken ausdehnte. Die Sache weckte mein Interesse in einem solchen Maße, daß ich die Kerze noch ein wenig näher rückte, um eine genauere Untersuchung vorzunehmen. Es schien, als habe der kleine Engel einen tödlichen Schlag auf den Kopf erlitten und als sei der seine Vollkommenheit ruinierende rotbraune Fleck Blut, das aus der Wunde geflossen war.
Wenn ich heute zurückdenke, so glaube ich, es war meine Analogie von Blut und Fleck, die mich zurück in die Realität holte. Wie begabt jener Künstler dieses jahrhundertealten Werkes auch gewesen sein mag, nicht einmal Michelangelo hätte diesen marmornen Körper zum Leben erwecken können. Oh nein, es war wirklich Blut. Das konnte ich durch eine nähere Untersuchung feststellen. Und zwar nicht des Engels.
Die nähere Untersuchung, auf die ich anspiele, bezieht sich auf meinen Gebrauch des Vergrößerungsglases von Mr. Holmes. Oder zumindest auf eines der vielen solcher Gläser, die der Herr sich über die Jahre hinweg zugelegt hat. Sollte Mr. H. jemals diese Zeilen lesen, die ich nun schreibe, dann kann er versichert sein, daß sich der besagte Gegenstand schon seit langer Zeit wieder in der Kommode vor dem Fenster befindet. Daß ich ihn an mich genommen habe, kann ich nur damit erklären, daß ich Mr. Holmes nun mal auf Haddley vertreten wollte und ich das Gefühl hatte, der fragliche Gegenstand, mit dem er seit langem assoziiert wurde, verleihe mir ein gewisses Maß an Professionalität. Ein glücklicher Zufall jedenfalls, denn nachdem ich das Glas aus meiner Handtasche hervorgeholt hatte, merkte ich, daß seine Vergrößerung es müden Augen erlaubte, feine Haare zu erkennen, welche in den Fleck auf der Statue eingebettet waren.
Ich nahm den marmornen Engel vorsichtig hoch, wiegte ihn auf meinem Arm, wie eine Mutter es mit ihrem Kinde täte, und verließ den Tatort des Mordes, wobei ich mir innerlich zu dem Fund des stumpfen Gegenstandes gratulierte, der für den Tod der jungen Frau, deren Leichnam ich erst an diesem Morgen untersucht hatte, verantwortlich war.
Nach dem Dinner verzichteten Vi und ich auf ein Dessert von Fruchteis, zogen uns diskret vom Tisch zurück und begaben uns in das Arbeitszimmer.
»Die Mahlzeit war in etwa so lustig wie eine Abendmahlsfeier!« sagte meine Freundin und ließ sich in den Sessel mir gegenüber fallen. »Wirklich, ich hätte es sogar begrüßt, wenn der Colonel ein oder zwei Äußerungen von sich gegeben hätte“: Obwohl er sonst ein ziemlicher Trottel ist.«
»Ich denke«, antwortete ich, »der Mangel an Konversation war verständlich. Es war für keinen von uns ein sehr angenehmer Tag.«
»Mhm, besonders für sie – falls die überhaupt irgendein Gewissen haben. Hättest Lady Margaret bei dem Gottesdienst sehen sollen, Em. Heulte vor sich hin und wischte sich die Augen, als wäre sie ach wie untröstlich. Mensch, man hätte denken können, sie wohnt dem Begräbnis vom Weihnachtsmann persönlich bei! Und ich sag’ dir noch was«, fügte sie mit erhobenem Finger hinzu. »Es würde mich nicht im geringsten überraschen, wenn Lady Arrogant selbst meine Herrin umgebracht hätte.«
»Es ist recht leicht«, entgegnete ich, »jemanden zu verdächtigen, vor dem man wenig Achtung hat, aber das bedeutet nicht unbedingt, daß Lady Margaret für alles verantwortlich ist, außer für ihr wirklich
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