Kein Fall für Mr. Holmes
Person nun beide…«
»Ein Mensch«, unterbrach er mich, um meinen Gedankengang weiterzuführen, »baumelt ebensogut für einen wie für zwei Morde an dem Ende eines Seils.«
»Dann ist es wohl das beste«, sagte ich, »wenn wir unsere Aufmerksamkeit dem zweiten ermordeten Opfer zuwenden, wo wir zumindest einige lose Enden haben, an denen wir ziehen können.«
»Sehr gut formuliert, Mrs. Hudson«, antwortete er. Dann holte er seine Taschenuhr hervor, hielt sie in der Hand, und ich hörte ihn etwas murmeln wie »Eine Minute zu spät«.
»Ihre Uhr?« fragte ich.
Die Antwort erschien in Gestalt des Constable McHeath, der mit einem Tablett das Büro betrat.
»Ihr Tee, Inspektor«, sagte er und stellte es auf dem Schreibtisch ab. »Ich habe mir die Freiheit genommen, auch Ihnen eine Tasse zu bringen, Mrs. Hudson«, fügte er hinzu.
»Wie umsichtig von Ihnen, Constable.« Ich lächelte ihm zu.
»Wäre sonst noch etwas, Inspektor?« fragte er mit einem Seitenblick in meine Richtung.
Offensichtlich hatte er die Teezeit genutzt, um seine Neugier bezüglich des Grundes für meinen Besuch zu befriedigen.
»Eine Sache, McHeath«, antwortete Thackeray, während er den Tee einschenkte. »Tadlock.«
»Sir?«
»Es sind Informationen zutage getreten, die mich zwingen, unsere Haltung hinsichtlich des Verdächtigen zu überdenken.«
Obwohl es allen Anwesenden bewußt war, daß ich die Quelle der Informationen darstellte, schien es, als sollte ich nicht als solche besonders erwähnt werden. Nun gut.
»Dieses Mädchen, O’Connell, ist jetzt gewillt, die Geschichte des Jungen, nämlich daß er in der Nacht des Mordes mit ihr zusammen war, zu bestätigen, das gilt ebenso für ihre Zimmergenossin«, berichtete der Inspektor ausdruckslos.
»Haben ihre Geschichte geändert, wie? Vielleicht«, ergänzte er mit einem allzu offensichtlich anschuldigenden Blick in meine Richtung, »wurden sie dazu gezwungen. Wenn Sie wissen, was ich meine, Inspektor.«
Wie sein Vorgesetzter, so besaß auch der Constable ein bürokratisches Bewußtsein, das automatisch Widerstand leistete, sobald der Versuch unternommen wurde, etwas anzuzweifeln, was bis zu meinem Besuch als abgeschlossener Fall gegolten hatte.
»Es steckt noch mehr als ihr Eingeständnis dahinter«, sagte Thackeray und ignorierte die Schlußfolgerung des Mannes. »Wir sprechen später zu geeigneterer Stunde darüber.«
»Ich verstehe«, lautete die offensichtlich verärgerte, aber dennoch kontrollierte Antwort von Thackerays Untergebenem. »Ist das dann alles, Inspektor?«
»Im Moment ja. Danke, McHeath.«
»Haben Sie irgendwelche Fortschritte hinsichtlich der Identifizierung des Mädchens gemacht?« fragte ich, nachdem der Constable die Tür hinter sich geschlossen hatte.
»Ich denke, wir können die Annahme, sie sei aus Twillings, vernachlässigen. Wir haben bisher keine Berichte über das Verschwinden eines Mädchens, auf das ihre Beschreibung zutrifft. Aber vielleicht hören wir doch noch etwas.«
»Dann weiß man also nicht mehr als zuvor?« fragte ich, während der Inspektor mit einer gewissen Zeremonie einen Hafermehlkeks in seinen Tee tunkte.
»Nun, doch, eine Sache«, berichtete er, nachdem er den Keks gierig verschlungen hatte.
»Aha«, sagte ich und beugte mich vor, »und was ist das?«
»Es scheint«, antwortete er, wobei sein Blick den meinen mied, »als trug sie, wie Sie vielleicht sagen würden, ein Kind unter ihrem Herzen.«
»Sie war schwanger?«
Inspektor Thackeray rutschte unruhig auf seinem Stuhl hin und her. »Das ist ein Wort, welches ich in Anwesenheit einer Dame nicht gewählt hätte, Mrs. Hudson. Aber ja, das war sie.«
In Anwesenheit einer Dame! Ich blickte gen Himmel. In aller Offenheit mit mir über Mord und all seine schmutzigen Begleiterscheinungen zu reden, war für den guten Inspektor zu akzeptieren, aber indem ich das Wort aussprach, das sich auf einen fortwährenden Prozeß des Lebens bezieht, beging ich anscheinend den bedauerlichsten aller gesellschaftlichen Fehler. Ich konnte nur hoffen, daß das neue Jahrhundert, welches nur noch wenig länger als ein Jahr entfernt war, einen akzeptableren Sittenkodex mit sich bringen würde. So wie es aussah, mußte ich mich aber nicht nur mit der Gegenwart, sondern auch mit dem Inspektor zurechtfinden. Und da ich seine Dienste noch in Anspruch nehmen wollte, hielt ich es für das beste, meine Ansichten für mich zu behalten.
»Vergeben Sie mir, Inspektor«, entschuldigte ich mich also sittsam.
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