Kein Friede den Toten
Gesicht, »seh ich aus, wenn ich was ernst meine. Es gibt Typen, die macht so was an.«
»Ein Gipsarm?«
»Klar. Wie die Kerle, die auf Amputierte stehen.«
»Mein Arm ist noch dran.«
»Hey, manche Typen macht schon ein starker Windstoß an, wenn du verstehst, was ich meine.« Der Dicke rieb die Hände aneinander. »Ich kannte mal einen, der stand auf Käsefüße. Muss man sich mal vorstellen.«
»Nett.«
»Und wer ist deine Freundin?«
»Niemand.«
Er zuckte die Achseln. »Eine Polizistin aus New Jersey hat nach dir gefragt.«
»Ich weiß. Die Sache ist erledigt.«
»Sieh zu, dass du auf die Bühne kommst. Mit der Schlinge.«
Kimmy sah Olivia an. »Na ja, vielleicht seh ich von da oben sogar mehr. Weil niemand auf mich achtet.«
Olivia nickte. »Musst du selbst wissen«, sagte sie.
Kimmy verschwand hinter der Bühne. Olivia setzte sich an
einen Tisch. Sie nahm das Publikum gar nicht wahr und suchte auch nicht in den Gesichtern der Tänzerinnen nach ihrer Tochter. Ihr dröhnte der Kopf. Trauer, überwältigende Trauer hatte sie erfasst.
Sag’s ab, dachte sie. Verschwinde einfach.
Sie war schwanger. Ihr Mann lag im Krankenhaus. Das war jetzt ihr Leben. Dies war Vergangenheit. Und das sollte es auch bleiben.
Aber sie blieb sitzen.
Olivia dachte wieder einmal daran, dass die Misshandelten stets den Weg der Selbstzerstörung wählten. Sie konnten einfach nicht anders. Sie folgten ihm, ganz egal, welche Konsequenzen das für sie hatte oder welche Gefahr es barg. Manchmal aber schlugen sie ihn vielleicht auch aus dem gegenteiligen Grund ein – so wie sie –, weil sie nämlich die Hoffnung nicht fahren lassen konnten, ganz egal, wie oft das Leben versucht hatte, sie in die Knie zu zwingen.
Bestand nicht doch noch die Möglichkeit, dass sie heute Abend ihr Baby wiedersah, das sie vor so vielen Jahren zur Adoption freigegeben hatte?
Die Kellnerin trat an ihren Tisch. »Sind Sie Candace Potter?«
Sie zögerte keinen Moment. »Ja, bin ich.«
»Ich habe eine Nachricht für Sie.«
Sie gab Olivia einen Zettel und ging. Die Nachricht war kurz und einfach:
Gehen Sie ins Hinterzimmer B.
Warten Sie dort zehn Minuten.
Sie ging wie auf Stelzen. In ihrem Kopf drehte sich alles. Ihr Magen rebellierte. Auf dem Weg stieß sie einen Mann an und entschuldigte sich, worauf er antwortete: »Hey, Baby, war mir
ein Vergnügen.« Die Männer in seiner Begleitung stimmten ein. Olivia ging weiter. Sie kam in den Backstage-Bereich und fand die Tür mit dem B darauf. Es war dieselbe, durch die sie schon vor ein paar Stunden gegangen war.
Sie öffnete die Tür und trat ein. Ihr Handy klingelte. Sie ging ran und sagte Hallo.
»Leg nicht auf.«
Es war Matt.
»Bist du im Club?«
»Ja.«
»Hau sofort ab. Ich glaube, ich weiß jetzt, was los ist …«
»Psst.«
»Was ist?«
Olivia weinte. »Ich liebe dich, Matt.«
»Olivia, ganz egal, was du jetzt denkst, bitte mach, dass du da …«
»Ich liebe dich mehr als alles in der Welt.«
»Hör mir zu. Verschwinde aus dem …«
Sie klappte das Handy zu und schaltete es aus. Dann blickte sie zur Tür. Fünf Minuten vergingen. Sie blieb stehen, rührte sich nicht von der Stelle, schwankte nicht, sah sich nicht um. Es klopfte.
»Herein«, sagte sie.
Die Tür öffnete sich.
60
So sehr er sich auch bemühte, Matt kam nicht aus dem Bett.
»Fahr du«, sagte er zu Loren.
Über Funk informierte sie das Reno Police Department und lief zum Wagen. Loren war keine drei Kilometer mehr vom Eager Beaver entfernt, als ihr Handy klingelte.
Sie nahm den Anruf an und blaffte: »Muse.«
»Sie sind also immer noch in Reno.«
Es war Adam Yates. Er lallte.
»Bin ich.«
»Loben die Kollegen Sie, wegen Ihres Genies?«
»Ganz im Gegenteil, würde ich sagen.«
Yates gluckste. »Tja, ich bin leider ziemlich beliebt gewesen.«
Er hatte getrunken. »Sagen Sie mir, wo Sie sind, Adam.«
»Das war mein Ernst, was ich Ihnen erzählt hab. Das wissen Sie doch, oder?«
»Natürlich, Adam. Das weiß ich.«
»Ich meine, dass die meine Familie bedroht haben. Ich hab nie gesagt, dass sie’s direkt auf ihr Leben oder ihre Gesundheit abgesehen hatten. Aber meine Frau. Meine Kinder. Mein Job. Das Video war wie eine Pistole. Eine riesige Pistole, die die uns auf die Brust gesetzt haben, verstehen Sie?«
»Selbstverständlich«, sagte Loren.
»Es war ein verdeckter Einsatz, für den ich mich als reicher Grundstücksmakler ausgegeben habe. Darum war ich das perfekte Opfer für Clyde Rangor. Ich
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