Kein Friede den Toten
sich, was ihn das anging.
Sie ging in die Küche. Matt stellte sich immer noch schlafend, öffnete aber langsam ein Auge. Marsha machte den Jungs ihre Schulbrote. Mit geübter Hand strich sie Traubengelee aufs Brot. Sie hatte Tränen in den Augen. Er ließ sie in Ruhe weiterarbeiten
und lauschte, wie sie dann vorsichtig die Treppe hinaufging.
Um sieben Uhr morgens rief Cingle ihn an.
»Ich hab’s bei dir zu Hause versucht«, sagte sie. »Du warst nicht da.«
»Ich bin bei meiner Schwägerin.«
»Oh.«
»Hab nur auf meine Neffen aufgepasst.«
»Hatte ich gefragt?«
Er rieb sich das Gesicht. »Und, was gibt’s?«
»Fährst du ins Büro?«
»Ja, aber erst später. Wieso?«
»Ich habe deinen Verfolger gefunden. Charles Talley.«
Er setzte sich auf. »Wo?«
»Das würd ich lieber von Frau zu Mann mit dir besprechen.«
»Wieso?«
»Ich muss noch ein paar Nachforschungen anstellen.«
»Worüber?«
»Über Charles Talley. Ich komm gegen Mittag zu dir ins Büro, okay?«
Er musste sowieso zu seinem Donnerstags-Treffen im Museum. »Ja, in Ordnung.«
»Und Matt?«
»Ja?«
»Du sagtest, das wär was Privates? Die Sache mit Charles Talley?«
»Ja.«
»Dann steckst du ganz schön tief in der Scheiße.«
Matt war Mitglied des Newark Museums. Er zückte seinen Mitgliedsausweis, was allerdings gar nicht nötig war, weil die Türsteher
ihn inzwischen kannten. Er nickte und trat ein. Zu dieser Tageszeit waren nur sehr wenige Menschen in den Ausstellungsräumen unterwegs. Matt ging zur Kunstgalerie im Westflügel. Er kam an der neuesten Errungenschaft des Museums vorbei, einem farbenfrohen Ölgemälde von Wosene Worke Kosrof, und stieg die Treppe hinauf in den ersten Stock.
Dort oben war sie die Einzige.
Er sah sie schon von weitem im Gang stehen. Sie stand da, wo sie immer stand – vor einem Gemälde von Edward Hopper. Wie üblich hatte sie den Kopf ganz leicht nach links geneigt. Sie war eine sehr attraktive Frau, knapp sechzig, fast eins achtzig groß, mit ausgeprägten, hohen Wangenknochen und diesen blonden Haaren, die den Reichen vorbehalten zu sein scheinen. Wie immer sah sie tadellos aus, elegant und wie aus dem Ei gepellt.
Sie hieß Sonya McGrath. Sie war die Mutter von Stephen McGrath, dem Jungen, den Matt getötet hatte.
Sonya wartete immer beim Hopper. Das Gemälde hieß Sheridan Theater. Es zeigte das Innere eines Kinos und drückte ausweglose Trostlosigkeit und tiefe Verzweiflung aus. Es war faszinierend. Berühmte Bilder zeigten Verwüstungen, die durch Kriege verursacht wurden, den Tod und die Zerstörung, die er mit sich brachte, aber etwas in diesem scheinbar so schlichten Hopper mit dem fast leeren Theaterrang sprach sie beide auf eine Weise an, wie es kein anderes Gemälde konnte.
Sonya McGrath hörte ihn kommen, hielt den Blick aber weiter auf das Bild gerichtet. Matt kam an Stan vorbei, dem Wachmann, der donnerstagsvormittags immer in diesem Stockwerk arbeitete. Sie nickten sich kurz zu und lächelten. Matt fragte sich, was Stan wohl über diese ruhigen Treffen des Mittdreißigers mit der attraktiven älteren Dame dachte.
Er trat neben Sonya McGrath und betrachtete ebenfalls den Hopper. Er funktionierte wie ein absurder Zerrspiegel. Er
erkannte in Sonya und sich selbst die zwei einsamen Gestalten auf dem Gemälde wieder – dabei war er Hoppers Platzanweiser und sie die einzige Zuschauerin. Sie schwiegen eine Weile. Matt betrachtete Sonya McGraths Profil. Er hatte einmal ein Foto von ihr in der Zeitung gesehen, im Style -Teil der Sonntagsausgabe der New York Times. Sonya McGrath war fast schon eine Prominente. Auf dem Foto zeigte sie ein blendendes Lächeln. Von Angesicht zu Angesicht hatte er dieses Lächeln nie gesehen – er hatte sich schon gefragt, ob es vielleicht nur auf Fotos existierte.
»Sie sehen nicht gut aus«, sagte Sonya.
Sie sah ihn nicht an – ihm war nicht einmal aufgefallen, dass sie ihm auch nur einen kurzen Blick zugeworfen hatte –, trotzdem nickte er. Sonya drehte sich zu ihm um.
Ihre Beziehung – wobei der Begriff »Beziehung« nicht recht zu passen schien – hatte ein paar Jahre nach Matts Entlassung aus dem Gefängnis begonnen. Sein Telefon hatte geklingelt. Er war rangegangen, aber es hatte sich niemand gemeldet. Der Anrufer legte nicht auf, sagte aber auch nichts. Zwischendurch meinte Matt, jemanden atmen zu hören, aber meist war es einfach still.
Irgendwie wusste Matt, wer der Anrufer war.
Beim fünften Anruf holte Matt ein paar Mal tief
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