Kein Friede den Toten
gewesen. Sie hatte viele echte und wunderbare Freunde gehabt. Es wäre ein Leichtes gewesen, ihnen die Schuld zu geben, zu behaupten, sie hätten sich nach Stephens Tod langsam von ihr abgewandt, nachdem sie es pflichtbewusst eine Weile versucht hatten. Dann wäre es ihnen aber doch zu viel geworden, so dass sie sich erst eine Ausrede gesucht und dann bald eine zweite hinterhergeschoben hatten, bis der Abstand allmählich immer größer geworden und die Verbindung schließlich ganz abgebrochen worden war.
Aber das wäre den Freunden gegenüber nicht fair gewesen.
In einem gewissen Ausmaß mochte das zutreffen – eine gewisse Loslösung hatte schon stattgefunden –, aber die Verantwortung dafür lag mehr bei Sonya als bei ihren Freunden. Sie hatte sie weggeschoben. Sie wollte nicht getröstet werden. Sie wollte weder Gesellschaft noch Kameraderie oder Mitgefühl. Eigentlich wollte sie auch nicht unglücklich sein, aber das war vielleicht die einfachste und damit auch die beste Alternative.
Die Haustür wurde geöffnet.
Sonya schaltete die kleine Lampe neben dem Fernsehsessel an. Es war dunkel draußen, aber das spielte in diesem stickigen Zimmer sowieso keine Rolle. Die Rollos ließen kein Licht herein. Sie hörte die Schritte auf dem Marmorboden in der Diele, und dann auf dem Parkett. Sie kamen auf sie zu.
Sie wartete.
Einen Augenblick später betrat Clark das Zimmer. Er sagte nichts, stand einfach nur da. Sie musterte ihn einen Moment lang. Er sah älter aus, vielleicht war es aber auch einfach eine Weile her, seit sie sich den Mann, mit dem sie verheiratet war, zum letzten Mal genau angesehen hatte. Er hatte sich entschlossen, nicht vornehm zu ergrauen, und angefangen, sich die Haare zu färben. Wie bei allem, was er tat, ging Clark beim Färben sehr sorgfältig vor, trotzdem sah es nicht gut aus. Seine Haut war aschfahl. Er wirkte eingefallen.
»Ich wollte gerade einen Film gucken«, sagte sie.
Er starrte sie an.
»Clark?«
»Ich weiß Bescheid«, sagte er.
Er meinte nicht, er wüsste, dass sie einen Film angucken wollte. Er meinte etwas anderes. Sonya bat ihn nicht um eine Erläuterung. Es war nicht nötig. Sie blieb ganz ruhig sitzen.
»Ich weiß von den Museumsbesuchen«, fuhr er fort. »Ich weiß es schon lange.«
Sonya überlegte, was sie darauf erwidern sollte. Ihm ein »Ich weiß auch über dich Bescheid« zu entgegnen, war zwar naheliegend, wäre aber einerseits zu defensiv, andererseits auch vollkommen unerheblich gewesen. Hier ging es nicht um eine Affäre.
Clark stand mit hängenden Armen vor ihr, ihm juckte es in den Fingern, er hatte die Hände aber nicht zu Fäusten geballt.
»Seit wann weißt du es?«, fragte sie.
»Seit ein paar Monaten.«
»Und warum hast du bisher nichts gesagt?«
Er zuckte die Achseln.
»Wie bist du draufgekommen?«
»Ich habe dich beschatten lassen«, sagte er.
»Beschatten? Du meinst, du hast einen Privatdetektiv beauftragt?«
»Ja.«
Sie legte die Beine übereinander. »Warum?« Ihre Stimme wurde etwas schriller. Sie fühlte sich von diesem eigenartigen Betrug getroffen. »Hast du gedacht, ich gehe fremd?«
»Er hat Stephen umgebracht.«
»Es war ein Unfall.«
»Wirklich? Erzählt er dir das bei euren kleinen Mittagessen? Unterhaltet ihr euch darüber, wie er meinen Sohn aus Versehen umgebracht hat?«
»Unseren Sohn«, korrigierte sie ihn.
Dann sah er sie an. Sie kannte diesen Blick, hatte ihn schon oft gesehen, allerdings hatte er sie noch nie so angesehen. »Wie konntest du nur?«
»Wie konnte ich was, Clark?«
»Dich mit ihm treffen. Ihm Vergebung anbieten …«
»Ich habe ihm nie irgendwas in der Art angeboten.«
»Dann eben Trost.«
»Darum geht’s nicht.«
»Worum geht’s dann?«
»Ich weiß nicht.« Sonya stand auf. »Clark, jetzt pass mal auf: Was Stephen passiert ist, war ein Unfall.«
Er schnalzte spöttisch. »Tröstet dich das, Sonya? Tröstet es dich, wenn du dir sagst, dass es ein Unfall war?«
»Trösten?« Ein Schauer erfasste sie. »Es gibt keinen Trost, Clark. Absolut keinen. Ob Unfall oder Mord – Stephen ist in jedem Fall tot.«
Er sagte nichts.
»Es war ein Unfall, Clark.«
»Davon hat er dich überzeugt, was?«
»Eigentlich war es eher andersherum.«
»Was soll das denn heißen?«
»Er ist sich nicht mehr sicher. Er hat ungeheure Schuldgefühle.«
»Der arme Junge.« Clark verzog das Gesicht. »Wie kannst du nur so naiv sein?«
»Eine Frage«, sagte Sonya und trat näher an ihn heran. »Wenn sie
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