Kein ganzes Leben lang (German Edition)
übernehmen war ihr fremd.“
„Ich stelle mir manchmal vor, dass ich Christianos Geliebte treffe und zur Rede stelle.“
„Was sagst du ihr?“
„Nichts. Ich drehe ihr den Hals um.“
Helene nickte verständnisvoll.
„Das Traurige ist nur, dass Christiano mir gar keine Zeit gegeben hat, zu begreifen, was falsch läuft. Und was ist überhaupt falsch gelaufen?“
„Er hat unterschätzt, wie sich der Umzug auswirken würde.“
„Aber er hat das gewollt. Er war auch derjenige, der sofort ein Baby wollte“, erwiderte Anna heftig. Es war ein warmer Sommerabend gewesen. Ein Aperitif auf einer Dachterrasse, die Mailand überblickte, ein Abendessen in einem weinüberwachsenen Innenhof, ein guter Rotwein, und als sie sich später zu Hause küssten, sagte Christiano:
„Ich wünsche mir ein Kind von dir, heute Abend.“
Sie kannte viele Frauen, die ihre Männer zu Heirat und Kindern drängen mussten. Mit Christiano geschah es natürlich. So vorsichtig er in seinem Berufsleben war, so spontan und enthusiastisch war er in seinem Privatleben. War es das? Er hatte zu viel Gas gegeben und war gegen die Wand gefahren? Aber wie hätte sie wissen sollen, dass sie in eine Falle lief?
„Vielleicht ging alles zu schnell. Vielleicht hätten wir uns mehr Zeit geben sollen“, teilte Anna ihre Bedenken mit Helene.
„Ihr wart drei Jahre zusammen, als Christiano nach Italien ging und dir einen Heiratsantrag machte. Das würde ich nicht als übereilt bezeichnen“, erwiderte Helene. Sie zog sich den Hut vom Kopf und fächelte sich damit Luft zu.
„Zu deiner Zeit war das genug Zeit. Heute ist das schnell.“
„Christiano war vierunddreißig, das ist weiß Gott reif genug.“
„Ich denke, dass er sich verrechnet hat. Er wollte alles sofort, und dabei hat er sich selbst überholt.“
„Ich kann dir nicht folgen. Menschenskinder, ist das eine Hitze.“ Helene kramte in der Handtasche und zog ein weißes besticktes Taschentuch heraus.
Anna stand auf und spannte den Sonnenschirm auf.
„Vielleicht ist er eines Morgens während meiner Schwangerschaft aufgewacht und hat begriffen, dass seine Frau arbeitslos und schwanger ist und die ganze Verantwortung auf seinen Schultern liegt. In diesem Moment erlag er der anderen, die Heiterkeit und Unbeschwertheit versprach“, spann Anna ihren Gedanken fort.
„Mir kommen die Tränen. Er hat ein sattes Vermögen von seinen Eltern geerbt und die Wohnung obendrauf. Die finanzielle Verantwortung ist also nicht besonders schwer.“
„Ich will es doch nur begreifen.“ Anna sah sie hilflos an.
„Sich während der Geburt seiner Tochter mit seiner Geliebten im Bett zu tummeln ist unbegreiflich.“
„Ich schwanke zwischen Liebe und Hass“, sagte Anna unvermittelt.
„Kenne ich, habe ich ein Leben lang.“
„Und am Ende siegte der Hass.“
„Nein, der Überlebenstrieb.“
Das Klingeln des Handys ließ Anna aufschrecken. Sie blinzelte mit den Augen. Sie war auf dem Sofa eingenickt. Ein Blick in die Wiege verriet ihr, dass Laura noch schlummerte.
Sie suchte nach ihrem Handy unter den Kissen.
Es war Christiano.
„Was willst du? Laura schläft, du hättest sie wecken können.“ Sofort bereute sie ihre Wortwahl. Ganz die stereotype, nervige Mutter.
„Das tut mir leid.“ Christiano zögerte kurz, dann bat er: „Anna, ich weiß, dass ich mich schäbig benommen habe, aber bitte gib mir eine Chance, es zu erklären.“
„Ich wüsste nicht, welche Erklärung es geben sollte außer rücksichtsloser Egoismus.“
„Können wir uns treffen?“
„Uns treffen?“
„Treffen schadet nichts, hör dir an, was er zu sagen hat“, flüsterte ihr Helene zu, die im Türrahmen aufgetaucht war.
„Kann ich heute Abend vorbeikommen? Vielleicht bevor die Kleine schläft? Bitte, ich vermisse sie so.“
Annas Herz schmolz.
„In Ordnung. Komm gegen acht. Dann kannst du sie baden.“
„Okay.“
„Dann bis später.“
„Anna?“
„Ja?“
„Danke.“
Sie legte auf und sah Helene an.
„Ich darf mich nicht von ihm weichkochen lassen.“
„Nein, aber du kannst auch nicht den Kopf in den Sand stecken. Hör dir an, was er zu sagen hat.“
Laura weinte. Anna schaute auf die Uhr. Wahrscheinlich hatte sie Hunger. Sie nahm sie aus der Wiege und setzte sich auf die Wohnzimmercouch. Helene zog sich zurück. Nach wenigen Augenblicken ergriff sie die betörende Ruhe des Stillens. Ihr Blick glitt träge durch das Wohnzimmer. Die späte Nachmittagssonne schien durch die hohen Fenster
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