Kein ganzes Leben lang (German Edition)
Kitzel des Unbekannten.“
Anna schluckte.
„Das kann man sich nicht geben. Es ist besser, das zu akzeptieren, als sich lächerlich zu machen“, fuhr Lucrezia fort.
„Und das rechtfertigt sein Verhalten, das rechtfertigt Fremdgehen?“, fragte Anna scharf.
„Nein, aber es erklärt es, macht es verständlich, menschlich irgendwie. Christiano liebt dich deswegen nicht weniger.“
„Aber respektiert er mich?“
„Natürlich. Dass Menschen Fremdgehen immer gleich mit Respektlosigkeit verbinden müssen. Er holt sich etwas, das er braucht und das du ihm nicht geben kannst. Dich damit zu bedrängen wäre Respektlosigkeit.“
„Ich weiß nicht, ob mich das überzeugt. Er hat mich geheiratet, und jetzt will er die Ehe nur bedingt. So funktioniert das nicht.“
„Doch und nur so. Die Ehe als monogame Institution ist naiv. Das war schon immer so.“
„Du hast leicht reden. Für dich bedeutet eine feste Beziehung nur Zwang. Aber nicht jeder ist so.“ In dieser Hinsicht waren sie unterschiedlich wie Tag und Nacht. Lucrezia spielte mit den Männern. Anna liebte Christiano.
„Doch. Jeder fühlt sich irgendwann in der besten Beziehung eingeschlossen“, widersprach Lucrezia, „wenn man dann seine Bedürfnisse unterdrückt, gibt man dem Partner die Schuld. Damit beginnt der Teufelskreis.“
Anna drehte sich der Kopf. Hatte Lucrezia recht? War Fremdgehen letztlich etwas Natürliches, das man nicht überbewerten durfte?
„Aber was ist mit Lauras Geburt? Er hat uns für Hemmungslosigkeit und Nervenkitzel im Stich gelassen.“
„Das war respektlos und hätte nicht passieren dürfen“, räumte Lucrezia ein.
„Hast du irgendetwas mitbekommen? Ich meine, ihr arbeitet doch zusammen.“ Anna sah Lucrezia erwartungsvoll an.
Diese zögerte kurz. Dann zuckte sie mit den Achseln und schüttelte den Kopf.
„Liebes, du solltest versuchen, das alles nicht so ernst zu nehmen. Ich kann deinen Kummer verstehen. Aber der bringt dich nicht weiter. Lass Christiano noch ein wenig zappeln, denn das verdient er. Aber dann nimm ihn zurück. Ich will das schönste Paar unter dem Himmel nicht als geschieden von der Liste streichen. Als erste Maßnahme werden wir einen Mädchenabend organisieren. Erst Aperitif im Bulgari und dann essen gehen.“
Vor Annas Augen tauchten endlose Abende auf, die sie so verbracht hatten. Sehnsucht nach der Leichtigkeit stieg in ihr auf. Die Freundin, die das Leben nicht ernst nahm, nahm Christianos Fehltritt die Schwere. Sie griff nach Lucrezias Hand und drückte sie.
„Es ist schön, dass es dich gibt.“
Lucrezia eilte die Via Dante hinunter in Richtung Duomo. Sie war in Gedanken und rempelte mehrere Fußgänger an, die ihr hinterherschimpften. In einem Straßencafé trank sie einen Kaffee. Sie vermisste in Städten den Blick in die Ferne. Überall traf das Auge auf Gebäude. Wie gerne hätte sie jetzt am Strand gestanden und auf das weite Meer hinausgesehen. Das Ziehen in ihrem Magen war nicht stark genug, um beschwerlich zu sein, und nicht schwach genug, um nicht wahrgenommen zu werden. Bisher hatte sie keine Gewissensbisse gehabt. Besser, sie gab Annas Mann, was ihm fehlte, als eine andere, die ihn ihr am Ende ausspannen wollte. Bisher hatte Anna aber auch keine Ahnung gehabt. Sie legte ein paar Münzen auf den Tisch und stand auf. In der Tasche kramte sie nach ihrer Sonnenbrille. Ein paar Jugendliche pfiffen ihr großspurig hinterher. Sie lächelte ihnen zu. Die jungen Männer schauten sich unsicher an. Lucrezia amüsierte sich. Große Klappe, nichts dahinter. Sie lief durch die historischen Einkaufsgalerien Vittorio Emanuele. Obwohl sie seit Jahren in Mailand lebte, nahm das prunkvolle Dekor der glasüberdachten Galerien sie immer wieder aufs Neue gefangen. Warum hatte Christiano sie nicht gewarnt? Sie war plötzlich wütend. Sie so ins offene Messer laufen zu lassen. Dem würde sie noch etwas anderes erzählen. Das verdammte Foto! Was hatte sie da nur geritten? Ein Moment der Schwäche. Zum Glück war sie als Person nicht erkennbar gewesen. Die Anonymität war der Kitzel gewesen und jetzt die Rettung. Sie schaute sich ein paar Kleider in einer Vitrine an, ohne sie wirklich wahrzunehmen. Anna durfte jetzt keine Dummheiten machen. Christiano und sie wollten nur Spaß haben, sonst nichts. Es wäre lächerlich, wenn dies eine Familie zerstörte. Lucrezia hatte nie verstanden, warum Menschen Treue so hochhielten, wenn es damit sowieso kaum einer genau nahm. Sie fühlte sich elend. So
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