Kein ganzes Leben lang (German Edition)
die Luft. Intuitiv wollte sie ins Schlafzimmer rennen und Christiano davon erzählen. Sie stockte. Ihre gute Laune verflog. Wie sehr sie ihn vermisste. Laura strahlte sie an. Dieses ehrliche, unschuldige Lächeln rührte sie.
„Ich wünschte, du könntest es dir bewahren. Aber ich weiß, dass du es verlieren wirst.“
Das Telefon schellte. Mit Laura auf dem Arm eilte Anna ins Wohnzimmer und nahm ab.
„Schatz, ich bin es, Helene. Wie geht es? Lebt Christiano noch?“ Helene lachte vergnügt. Anna klemmte sich das Telefon zwischen Schulter und Ohr und schaltete die Kaffeemaschine ein.
„Ja, ich habe ihn nicht mehr gesehen. Aber lass uns nicht von Christiano reden. Heut habe ich meinen großen Tag. Ich bin ganz aufgeregt.“
„Du wirst gut sein, wie früher. Bist du vorbereitet?“
„Ja, ich habe gestern Abend die neueste Rechtsprechung gebüffelt. Lucrezia hat mir geholfen.“ Anna setzte Laura in die Wippe.
„Ich bin stolz auf dich, mein Schatz. Du wirst es ihm zeigen. Wie gerne würde ich Mäuschen spielen.“ Helene lachte wieder.
„Ich wünschte auch, du wärst hier. Wie ist die Reise?“
„Toll. Ich amüsiere mich prächtig. Das Essen ist so umwerfend wie die sizilianischen Männer.“
Anna verzog das Gesicht. „Verdreh nicht zu vielen den Kopf.“
„Ach, ich kann gar nicht genug bekommen. Schade, dass ich das Leben erst so spät entdeckt habe. Aber besser spät als nie. Wie geht es Laura? Ich vermisse sie!“
„Sie hat heute das erste Mal durchgeschlafen. Instinktiv wollte ich Christiano davon erzählen.“
„Kopf hoch, du kannst ihn dir wiederholen. Nur musst du ihn erst ein wenig schmoren lassen.“
„Du hast ja recht.“
Die Wohnungstür ging auf, und Shaban stand kurz darauf in der Küche.
„Shaban ist gerade gekommen. Ich muss mich fertig machen, das Treffen ist in wenigen Stunden.“
„Ich drück dir die Daumen! Ruf mich später an.“
Eine alte Bekannte schaute sie aus dem Spiegel an. Die langen weißblonden Haare waren zu einem strengen Dutt hochgesteckt. Sie war dezent geschminkt, trug einen klassischen dunkelblauen Hosenanzug und eine cremefarbene Bluse.
Fast wie früher, dachte sie. Sie streifte sich die hochhackigen Schuhe über. Etwas wackelig auf den Beinen drehte sie sich. Sie war Absätze nicht mehr gewohnt.
Und plötzlich waren da die Zweifel. Es war eben nicht mehr wie früher. Sie hatte Angst, zu versagen, sich noch mehr zu blamieren. Da sah sie plötzlich den grün gekachelten Kreißsaal vor sich, gefüllt mit ihrer Angst und Verzweiflung. Die Wut nahm ihr für einen Moment die Luft zum Atmen. Ihre Augen blitzten. Sie öffnete die Haare und schüttelte den Kopf. Noch immer nicht zufrieden, öffnete sie den ersten Blusenknopf. Dann nahm sie ihre Handtasche und verließ das Schlafzimmer.
Paul hatte sie zum Mittagessen in ein Restaurant in der Nähe der Galerien eingeladen. Sie suchte mit den Augen die Tische ab, die auf der Straßenterrasse standen.
„Anna!“
Sie drehte sich um und stutzte. Der Mann, der vor ihr stand, hatte nicht mehr viel mit dem Studenten zu tun, mit dem sie die Nächte durchgetanzt hatte. Er trug einen dunklen Nadelstreifenanzug, die blonden Haare waren kurz geschnitten, und auf seiner Nase saß eine dunkle Hornbrille.
Er lachte verschmitzt.
„Paul!“, rief sie, „irgendwie hatte ich noch den Studenten mit den ausgebeulten Jeans im Kopf.“
„Komm her“, er zog sie unvermittelt an sich und umarmte sie.
Dann hielt er sie auf Armeslänge.
„Toll siehst du aus.“ Paul kniff die Augen zusammen. „Irgendwie verwegener. Vielleicht ein bisschen dünn. Wie schaffst du es bloß, in Italien dünn zu sein?“
„Sich Tag und Nacht um ein Baby zu kümmern ist anstrengend. Wirst schon sehen. Dann verschwindet der Bauch.“ Sie zwinkerte ihm zu und stupste ihn in den Bauch.
„Frech wie immer.“ Er legte den Arm um sie.
„Komm, zeig mir mal, was man hier Gutes zu essen bekommt.“ Er nickte in Richtung des Restaurants.
Sie bestellten Spaghetti alle vongole und Weißwein.
Von ihrem Tisch aus erhaschten sie einen Blick in die Galerien. Jemand spielte auf dem achteckigen Platz im Zentrum der Galerien Klavier.
„Das ist das Leben.“ Paul lehnte sich zurück. „Wie geht es deinem Mann? Vielleicht können wir heute Abend alle zusammen essen gehen. Ich kann nicht glauben, dass ich ihn noch nie kennengelernt habe.“
Sofort meldete sich Annas schlechtes Gewissen. Sie beeilte sich zu sagen: „Er ist leider auf Geschäftsreise.
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