Kein Kind ist auch (k)eine Lösung
hundertfünfzig Kilo Pinienkerne fielen von meinen Schultern.
*
Um mir selbst das Gefühl zu geben, ein guter Mensch zu sein, rief ich zwei Tage später nachmittags nach der Arbeit Michas Mutter an. Ich hatte das dringende Bedürfnis, ein paar Schleimpunkte zu sammeln. Wer wusste schon, was Micha bei seinem Besuch erzählt hatte. Außerdem brauchte ich ihre Hilfe. Waltrauds Zustand beunruhigte mich mit jedem Zentimeter mehr, den ihr Bauch rechts und links in die Breite wuchs.
Entweder hatte Micha kein Sterbenswörtchen über unseren Brennpunkt von sich gegeben, oder Josephine Wilhelmine war eine gute Schauspielerin.
Nach den üblichen »Was macht das Leben so, ist es bei euch auch so nasskalt, und wie die Zeit doch vergeht«-Themen berichtete ich von der anstehenden Niederkunft und outete mich als komplett unwissend, in der Hoffnung, sie würde sich gleich ins Auto setzen und mit der Umgestaltung meines Wohnzimmers in einen artgerechten Kreißsaal beginnen.
Stattdessen fragte sie nach dem Vater, oder sagen wir mal lieber: Erzeuger. Und da es sich merkwürdigerweise so anfühlte, als handelte es sich hier um meine Schwangerschaft, war es mir irgendwie unangenehm, sagen zu müssen, dass ich es nicht mitbekommen hätte, also dass ich … du weißt schon … und daher nicht sagen könnte, wer es war. Meinen Verdacht behielt ich für mich. Das wäre ja sozusagen Inzucht. Innerhalb der Familie.
»Es sind sozusagen Überraschungseier«, erklärte ich und überlegte, warum ich mir selbst bisher so wenig Gedanken darüber gemacht hatte, was da am Ende wortwörtlich bei rauskommen würde. Ob die Rechnung aufging, dass ihr Hugo der Vater der Kinder meiner Waltraud war, stand in den Sternen, von der Anatomie mal ganz abgesehen. Es hätte unser Verhältnis, also das von Josephine Wilhelmine und mir, auch nur unnötig kompliziert gemacht. Es reichte ja fürs Erste, dass ich so was wie ihre Schwiegertochter war, da musste sie ja nicht noch die Oma für die Kinder meines Hundes werden oder so ähnlich.
Josephine Wilhelmine war – wie ich ja schon vermutet hatte – ein Hundelexikon auf zwei Beinen. Hätte ich das alles gegoogelt, hätte es drei Tage gedauert. Während dieses Wissenstsunamis dachte ich kurzzeitig, ob es eventuell Sinn machte, auf Lautsprecher zu stellen und ein Diktiergerät mitlaufen zu lassen. Merken könnte ich mir das alles eh nicht. Aus alldem, was sie mir binnen kürzester Zeit erklärte, hätte man eine neue Folge von »Was ist Was« machen können. Als Hörbuch.
Vermutlich hatte sie ihre eigenen Kinder zwischen zwei Gängen, die sie für ihre Gäste in ihrem Restaurant »Zur glücklichen Henne« brutzelte, zur Welt gebracht. Mal eben. So wirkte alles, was Josephine Wilhelmine tat, wie von leichter Hand und anscheinend ohne einen Ansatz von Anstrengung. Das war mir schon bei unserem Besuch aufgefallen, als sie aus ihrem Alltag berichtete, ihrem Leben, der Familie. Mal eben ein Restaurant geleitet, mal eben Kinder großgezogen, mal eben die Familie eingeladen und ein paar Torten selbst gemacht. Ach, Kind, das macht doch keine Arbeit. Mal eben die Enkelkinder beruhigt, die drohten, sich gegenseitig die Haare abzuschneiden, oder sich mit Kochlöffeln gegenseitig verprügelten – die Süßen.
Nach knapp zwei Stunden hatte ich ein glühendes Ohr und nahm mir vor, doch wieder auf Schnurtelefon umzustellen. So praktisch schnurlos auch war, aber ich hätte schwören können, hinter meinem Ohr einen Tumor zu spüren.
Ich wünschte ihr noch einen schönen Abend, bedankte mich für ihre Anleitung zur Welpengeburt und lud sie ein, uns zu besuchen. Am besten bald.
»Gerne, gerne«, sagte sie mit hörbarer Freude in der Stimme. Dann sagte sie Tschüss, und ich solle Micha grüßen, und bis bald. Mal eben verabschiedet.
Kaum hatte ich aufgelegt, klingelte es an der Tür. Der DHL-Mann schnaufte, als hätte er Zementsäcke hochgetragen, dabei war es doch nur mein Becherhalter. Ich unterschrieb, wünschte noch einen schönen Tag und riss mein Päckchen auf. Super Erfindung.
Ich nötigte Waltraud, noch eine Runde mit mir durch den Park zu fahren, schließlich wollte ich sofort meine neue Errungenschaft ausprobieren.
Und da entdeckte ich sie: die Profis unter den Kinderwagenschiebern. Während mein Becherhalter vermutlich schon als »old school« abgestempelt wurde, gab es etwas, was alles übertraf: die eingebauten Handschuhe. Man musste weder verhungern noch verdursten oder erfrieren, nur weil man ein Kind
Weitere Kostenlose Bücher