Kein Kind ist auch (k)eine Lösung
auch noch meine feuchten Augen sehen. Reflexartig nahm ich den armen Pelle und wischte mir mit ihm über die Augen, als wäre er ein Tempotaschentuch. Hilfe.
»Alles gut bei euch?«
Ich zog, kaum hörbar, die Nase etwas hoch, sagte, es sei alles bestens, und bat sie rein.
Michas Vater, Hans, musste noch kurz etwas in der Ottenser Hauptstraße besorgen und würde in einer Stunde zurück sein, um sie abzuholen, sie alle. Meine ganze Hundefamilie. Vielleicht sollte ich es doch ein bisschen positiver sehen. Es war ja eine Art Familienzusammenführung. Vielleicht waren es ja doch Hugos Kinder. Ob er sie akzeptieren würde? Und Huberta? Oh Gott, die Arme. Die Geliebte und ihre Kinder im eigenen Haus. Na, danke.
Josephine packte gerade den Kuchen aus, den sie – mal eben – für uns gebacken hatte, als Hanne anrief. Dass sie es war, sah ich auf dem Display. An ihrer Stimme hätte ich sie im Leben nicht erkannt, denn Hanne sagte nichts. Sie machte Geräusche. Komische Geräusche.
Erst dachte ich, sie würde nach Luft ringen, weil jemand sie würgte, doch dann hörte ich es: Es war wohl so etwas wie ein Lachen. Das Einzige, was ich in regelmäßigen Abständen von ein paar Sekunden verstand, war: »Du …« Pause. »Du …« Pause. »Du …« Dann wieder hysterisches Lachen.
»Ja, ich. Was ist denn mit mir?«
»Du siehst zum Schießen aus!«
Ich sah an mir herab. Ausgebeulte Jogginghose, Kapuzenpulli, Wollsocken. Woher wusste sie das?
»Wie kannst du das sehen?«
Sie holte tief Luft, atmete einige Male hörbar ein und aus und versuchte, wieder Herrin ihrer Atmung zu werden.
»Weil ich vor dir stehe.«
Ich sah mich um, stand auf, sah aus dem Fenster in das Haus gegenüber, in dem sie nicht wohnte.
»Hanne. Bist du betrunken? Ich bin mir ziemlich sicher, dass du nicht vor mir stehst.«
»Doch. Direkt. Hier, am Altonaer Bahnhof. Aber mal ehrlich. Wer hatte denn bitte diese Idee? Das ist ja …« Ich hörte sie nicht mehr, sie rang wieder nach Luft und japste.
Idee?
Oh nein! Bitte nicht.
Ich legte Pelle zu seinen Geschwistern, rannte in den Flur, schlüpfte in meine Schuhe, riss die dicke Daunenjacke vom Haken, rief nur noch: »Bin gleich wieder da!«, und lief Richtung Bahnhof, so schnell es ging ohne Kondition und mit Glatteis, das wir seit gestern hatten.
Der Busbahnhof war voll. An jeder Haltestelle standen mehrere Busse, Menschen stiegen ein und aus. Ich ging zwischen zwei Bussen durch und blieb wie versteinert stehen. Es waren die roten Lackstiefel, die ich auf dem Plakat zuerst erkannte, zwischen all den Leuten.
»Entschuldigung, könnte ich mal eben? Danke.« Ich drängelte mich bis zu dem Plakat durch. Dann zog ich wie hypnotisiert die Kapuze meines Pullis über den Kopf.
Das Plakat befand sich hinter einer Glasscheibe, neben den Abfahrtzeiten, sonst hätte ich es hier und jetzt abgerissen.
Ho, ho, ho! 99,9 – Aufwachen und lachen! Und tolle Sachen machen: Mit dem 1000-Euro-Weihnachtsgutschein! Rufen Sie jetzt an , stand in dicker roter Schrift über dem leuchtenden Geweih, das ich auf meinem Kopf trug.
Ich sah mich noch kurz nach Hanne um, entdeckte sie aber nirgends, zog an den Bändern der Kapuze, bis nur noch mein Mund und meine Nase rausguckten, und ging zurück. In Zukunft würde ich mir zuerst das Kleingedruckte in Grusel-Günthers E-Mails durchlesen. Dann erst den Rest.
*
Natürlich war dies nicht das einzige Plakat. Die ganze Freie und Hansestadt Hamburg wusste jetzt, dass Rot nicht jedem stand, vor allem keine roten Lackstiefel.
Ich wollte hier weg. Und zwar sofort und so lange, bis die Plakate verschwunden waren. Bei Grusel-Günther war besetzt. Sein Glück.
Ich rief Micha an. Bei irgendwem musste ich jetzt Dampf ablassen.
»Ich wollte es dir erst heute Abend sagen, aber …«, fing Micha an, nachdem ich ihm alles erzählt hatte, »an mir fuhr vorhin ein Lkw vorbei, auf dem du abgebildet warst.«
»Sehr witzig! Darüber kann ich jetzt echt nicht lachen.« Stille.
»Wirklich. Glaub mir. Aber ich muss sagen, du siehst super aus! Ich war richtig stolz auf dich. Meine Frau, auf einem Lkw. Wer kann das schon behaupten?«
Ich sagte gar nichts mehr.
»Pass auf, ich hol uns etwas Leckeres aus dem Geschäft, und dann komm ich heim, und wir essen alle zusammen und machen es uns gemütlich. Okay?«
Ich hatte keinen Hunger, und nach »gemütlich« war mir auch nicht – eher nach einer Kalaschnikow.
»Hast du bestimmte Wünsche, oder soll ich dich mit etwas überraschen?«
»Von
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