Kein Kind ist auch (k)eine Lösung
auf Trab hielt, war Günther. Denn nachdem er live on air den Geburtsreporter gegeben hatte, kamen haufenweise Glückwunschkarten, Lätzchen und Strampler bei uns an. Sie wurden per Post geschickt oder von Hörern gleich persönlich vorbeigebracht, wofür ich mich anständig bedankte und dabei auch gleich richtigstellte, dass nicht ich die glückliche Mutter war. Welche Frau würde auch am Tag nach der Geburt weitermoderieren?
Die gesamte Post leitete ich umgehend an Ilka weiter.
Ganze vier Wochen hielt die Aufregung an. Ende Sep tember war alles wieder vorbei. Grusel-Günther hatte ta tsächlich noch eine große Geburtsanzeige im Hamburger Abendblatt geschaltet. Eine halbe Seite!
Willkommen, Karlotta! Jetzt heißt es auch für dich: aaufwachen und lachen! Wir freuen uns über deine Ankunft auf diesem Planeten. Das Team von Hamburgs fröhlichstem Sender 99,9 .
Da der Name des Senders allerdings dreimal so dick und viermal so groß war wie der Name der Kleinen, war jedem Menschen, egal, ob mit oder ohne Schulabschluss, klar, dass es sich um eine Werbeanzeige handelte.
*
Es war Ende Oktober geworden. Womöglich lag es daran. Die Blätter fielen von den Bäumen, und ich verfiel wieder meinem liebsten Hobby: Grübeln.
Hatte ich mir nicht im Frühling etwas vorgenommen? Ach ja, ich wollte mein Leben umkrempeln. Und? Jetzt war Herbst, und ich stopfte die einzige legale Gute-Laune-Droge in mich rein, die nicht rezeptpflichtig war: hoch dosierte Johanniskrauttabletten.
Ja, vielleicht war auch das Wetter schuld. Meine Balkoninsel lag eingepackt in blauen Plastiksäcken auf dem Boden. Es regnete, als wollte es in diesem Leben nicht mehr aufhören. Man brauchte gar nicht mehr darüber nachzudenken, was man anzog, aber irgendeinem lustigen Menschen sei Dank, waren Gummistiefel ja gerade total hipp.
Am schlimmsten war es abends, wenn ich mit Waltraud noch eine Runde drehte und an den beleuchteten Fenstern vorbeizog. Dann war ich mir ziemlich sicher, die Einzige auf der Welt zu sein, auf die niemand wartete. Außer mein Hund. Ich konnte nicht anders. Ich tat mir selbst leid. Schon wieder.
Und diese trostlose Phase ging reibungslos in die schlimmste Jahreszeit über, die es für Singles gab: die Vorweihnachtszeit. Wochenlange Idyllenfolter. Das Fest der Liebe. So ein Schwachsinn.
Es war Ende November, und der Wahnsinn begann: Kekse backen, Kerzen ziehen, Adventskränze basteln, Serviettenringe häkeln, wichteln. Postkarten mit Fotos von kleinen Kindern trudelten ein, die scheinbar alle die gleiche Mütze besaßen: eine rote Zipfelmütze mit weißem Rand und Glocke am Ende. Ganz Verrückte hatten in ein blinkendes Modell investiert.
Aber das Allerschlimmste waren die ganzen glücklichen Menschen. Wo man hinsah! Zum Verrücktwerden. Die reinste Pärchenparanoia überfiel mich. Ich nahm mir vor, im kommenden Jahr in den Süden zu fliegen, sobald die ersten Spekulatiuskekse in den Regalen auftauchten.
Überall knutschten, küssten und leckten sie sich ab: in der S-Bahn, am Geldautomaten, sogar im Sender! Aus mir völlig unerklärlichen Gründen hatte sich eine unserer Praktikantinnen in Grusel-Günther verliebt. Er war doppelt so alt wie sie und doppelt so schwer. Allein die Vorstellung …
Aber dann passierte doch noch ein Wunder – genau am 24. Dezember!
Ich hatte mich samt all meiner Geschenke – für mich und für meine Mutter – in den Zug gesetzt und war nach Dänemark gefahren, wo sie ein Ferienhaus gemietet hatte. Sie wollte sichergehen, dass ich ihr nicht gleich bei der nächstbesten Meinungsverschiedenheit davonlaufen würde. Wie denn auch, wenn der nächste Ort fünfzehn Kilometer entfernt lag. Weihnachten und Silvester zusammen mit meiner Mutter auf sechzig Quadratmetern in der einsamen Steppe.
Mein Gott, damit habe ich meine Pflichten für die nächsten zehn Jahre im Voraus erfüllt, dachte ich.
Ich hatte eine Platzreservierung für ein Abteil, in dem nur ein Platz besetzt war. Von Michael. Michael Möller, wie ich dem Namensschild an seinem Koffer entnehmen konnte, als ich meinen direkt neben seinen auf die Ablage hievte.
Zugegeben, wären weitere Personen mit uns im Abteil gewesen, ich wüsste nicht, ob ich ihn so wahrgenommen hätte, wie ich es jetzt tat. Was blieb mir auch anderes übrig. Er saß mir ja gegenüber, beziehungsweise uns. Waltraud und mir.
Wo sollte man hinschauen, außer aus dem Fenster, wo man nichts sah, weil es Schneematsch regnete, oder in ein Buch, das ich schon nach Seite eins
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