Kein Kind ist auch (k)eine Lösung
erkennbar zwischen all den anderen Reisenden – schrie meine Mutter meinen Namen. »Chaaaarlotte! Chaaaarlotte!«
Ich drängelte mich, so schnell ich konnte, zu ihr durch, nur damit sie aufhörte zu rufen.
»Mama, du weißt doch, dass ich den Namen nicht mag. Kannst du mich nicht wenigstens an Heiligabend Charly nennen? Bitte!«
»Ist das alles?«, fragte sie mich.
»Entschuldige bitte. Frohe Weihnachten, Mama. Und ja, ansonsten ist das alles, was ich mir heute von dir wünsche.«
»Ich meine, ob das alles an Gepäck ist, was du dabeihast?«
Ich sah mich um. Rechts neben mir stand mein Koffer, links Waltraud.
Oh Gott! Die Tasche mit den Weihnachtsgeschenken! Meine selbst gemachten Porträtfotos, weil mir nichts Besseres eingefallen war! Der gute Wein und die Lederhandschuhe, die sie sich gewünscht hatte!
Mein Handy klingelte.
Michael.
Mein Retter.
Eine Stunde später stand er mit meinen Taschen am Bahngleis und lächelte mich an. Er war an der nächsten Station ausgestiegen und wieder zurückgefahren.
Zu mir.
Nach zwei Bechern löslichem Pulverkaffee zwischen wackeligen Tischen, die mit Plastikfolie überzogen waren, und blinkenden Sternen im Fenster des Bahnhofbistros verabschiedete er sich, was nicht am Kaffee lag, der wirklich nur zum Händeaufwärmen gut war. Sein Zug fuhr, und den musste er unbedingt bekommen. Sonst würde ihm das seine Familie übelnehmen, die eine gute Stunde entfernt auch ein Haus für die Feiertage gemietet habe und ihn schon erwarte, erklärte er fast entschuldigend.
Ich bedankte mich noch einmal und wollte ihm gerade die Hand geben, als er mich in den Arm nahm. Meine Mutter, die sitzen geblieben war, zeigte mit dem Daumen nach oben und zwinkerte mir zu.
Ich drehte mich ruckartig – mit ihm im Arm – ein paar Grad um die eigene Achse, damit er es bloß nicht sah.
»Ups, alles gut?«
»Ja, sorry …«
»Oder schon wieder ein Krampf?«
Oh Gott, der Mann musste ja denken, ich wäre ein Pflegefall. Aber lieber das, als dass er noch meine Mutter mit erhobenem Daumen sah.
»Nein, alles bestens, ich wollte nur auf die Uhr sehen, um sicherzugehen, dass du deinen Zug nicht verpasst!«, stammelte ich und zeigte auf die große runde Plastikuhr über dem Eingang des Bistros.
»Vielleicht … also vielleicht können wir ja mal einen richtigen Kaffee trinken. Ich glaube, ehrlich gesagt, ich kriege das etwas besser hin, als …« Ich zeigte mit dem Kinn in Richtung Tresen, hinter dem eine schlecht blondierte Brünette stand, die einen Zehn-Zentimeter-Haaransatz hatte und Brötchenhälften mit irgendwas beschmierte.
Er lachte. »Klar, das glaube ich sofort.«
»Also …«
»Ja, also, ich melde mich einfach. Dann hab ich einen Grund, mal das Haus zu verlassen, und muss nicht die ganze Zeit beim Abwaschen helfen.«
Er zwinkerte mir zu, nahm seine Sachen und stapfte durch den Schneematsch. Ich sah ihm noch einen Moment hinterher.
Michael Möller, mein Geschenkezurückbringer.
*
Weiß der Henker, was Hanne sich dabei dachte, mich in der ersten Januarwoche zum Stollen einzuladen. Ich war doch kein Resteverwerter. Nach gefühlten fünf Gänsebraten an Weihnachten und den Tagen danach, einer ganzen Kiste Niederegger und mindestens zehn Litern Glühwein hatte ich nur noch ein Bedürfnis: entgiftender Tee. Und ein Personal Trainer. Ein netter.
Ich setzte mich auf ihr Sofa zwischen »Nunis« (für alle Nichteltern: Schnuller) und Feuchttücherpackungen. Mann und Kind waren mit den Schwiegereltern spazieren.
»Wie war’s denn?«, fragte mich Hanne.
»Wie es war? Meine Mutter hat Silvester fast ein ganzes Ferienhausdorf in die Luft gesprengt mit ihren Böllern, dann eine Überschwemmung beziehungsweise Überschäu mung in unserem Whirlpool verursacht, weil sie erst den Badeschaum in den Pool ließ und dann den Hahn voll aufdrehte. Und ich durfte dann mit der Schneeschippe die Schaumberge aus dem Fenster kippen. Am Schluss hat sie sich noch zur Feindin sämtlicher Ehefrauen der Gegend gemacht. Oder sagen wir mal: Nochehefrauen. So war’s.«
»Wie hat sie denn das nun wieder angestellt?«
»Ganz einfach. Sie musste unbedingt in der einzigen Dorfkneipe, in die wir gehen konnten – bis zu diesem Abend, danach sind wir zu Hause geblieben –, den Wirt überreden die Torfrock-Weihnachts-CD rauszunehmen und stattdessen ihre neue Salsa-CD einzulegen.«
»Klingt erst mal nicht so schlimm.«
»Ne, wäre es dabei geblieben. Aber sie musste ja irgendwelchen wildfremden Männern zeigen,
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