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Kein Kinderspiel

Kein Kinderspiel

Titel: Kein Kinderspiel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dennis Lehane
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Amanda fuhren.
    »Ich weiß.«
    »Vierjährige verschwinden nicht einfach so.«
    »Mit Sicherheit nicht.«
    Die Menschen kamen langsam wieder aus ihren Häusern, da die Abendbrotzeit vorbei war. Einige stellten Liegestühle auf die kleine Veranda vor ihrem Haus; andere gingen die Straße entlang zur nächsten Kneipe oder zu einem abendlichen Ballspiel. In der Luft lag der Geruch von Schwefel irgend jemand hatte einen Knaller gezündet-, und die feuchte Abendluft hing wie angehaltener Atem im violetten Licht, bevor es endgültig dunkel wurde.
    Angie zog die Knie an und legte das Kinn darauf. »Vielleicht bin ich ja ein Feigling geworden, aber ich habe nichts dagegen, Leguane über Golfplätze zu jagen.«
    Ich sah durch die Windschutzscheibe, während wir von der Dorchester Avenue auf die Savin Hill Avenue abbogen.
    »Ich auch nicht«, gab ich zu.
    Wenn ein Kind verschwindet, drängen auf der Stelle viele Menschen an seinen Platz. Und diese Menschen - Verwandte, Bekannte, Polizisten, Journalisten vom Fernsehen und von der Zeitung - gehen mit sehr viel Energie an die Sache. Sie machen viel Aufhebens, denn sie wollen das Gefühl vermitteln, daß sie sich gemeinsam, mit vereinten Kräften um den Fall kümmern.
    Aber bei all diesem Getöse ist nichts so laut wie das Schweigen des vermißten Kindes. Dieses Schweigen ist 60 bis 90 Zentimeter groß und reicht einem Erwachsenen gerade bis zur Hüfte. Man hört es unter den Bodendielen aufsteigen, es springt einen aus den Ecken und Winkeln und dem ausdruckslosen Gesicht einer Puppe an, die neben dem Bett auf dem Boden liegt. Dieses Schweigen ist anders als die Stille nach Beerdigungen oder Totenwachen. Das Schweigen der Toten vermittelt ein Gefühl der Endgültigkeit; man weiß, es ist ein Schweigen, an das man sich gewöhnen muß. Doch an das Schweigen eines vermißten Kindes will man sich nicht gewöhnen, man will es nicht akzeptieren, und deshalb schreit es einen an.
    Das Schweigen der Toten bedeutet: Auf Wiedersehen.
    Das Schweigen der Vermißten bedeutet: Findet mich!
    Es sah aus, als halte sich die halbe Nachbarschaft und ein Viertel der Polizei von Boston in Helene McCreadys Vier-Zimmer-Wohnung auf. Ein offener Gang verband das Wohnzimmer mit dem Eßzimmer. Diese beiden Räume bildeten das Zentrum der Geschäftigkeiten. Die Polizei hatte Telefone auf dem Fußboden des Eßzimmers aufgestellt, die auch alle benutzt wurden; dazu sprachen noch einige in ihre Handys. Ein stämmiger Mann in einem T-Shirt mit der Aufschrift ICH BIN EIN BÖRSENZOCKER sah von einem Stapel Flugblätter auf dem Couchtisch vor sich auf und rief: »Beatrice, Channel Four will Helene morgen abend um sechs!«
    Eine Frau legte die Hand über die untere Hälfte ihres Handys. »Die Producer von Annie am Vormittag haben angerufen. Sie fragen, ob Helene bei ihnen auftreten kann.«
    »Mrs. McCready«, rief ein Polizist aus dem Eßzimmer, »können Sie mal kurz rüberkommen?«
    Beatrice nickte dem stämmigen Mann und der Frau mit dem Handy zu und sagte zu uns: »Amandas Zimmer ist die erste Tür rechts.«
    Ich nickte, und sie stürzte sich in das Gewühl im Eßzimmer.
    Die Tür zu Amandas Zimmer stand offen, der Raum selbst war ruhig und dunkel, so als könnten die Geräusche von der Straße nicht hereindringen. Plötzlich hörten wir die Toilettenspülung, und ein Streifenbeamter kam aus dem Badezimmer und sah uns an, während er mit der rechten Hand den Reißverschluß hochzog.
    »Freunde der Familie?« fragte er.
    »Ja.«
    Er nickte. »Fassen Sie bitte nichts an!«
    »Tun wir nicht«, sagte Angie.
    Er nickte und ging durch den Flur in die Küche.
    Mit meinem Autoschlüssel knipste ich das Licht an. Zwar war mir klar, daß jeder Gegenstand in diesem Zimmer bereits auf Fingerabdrücke untersucht worden war, doch wußte ich auch, wie allergisch Bullen reagierten, wenn man am Tatort etwas mit bloßen Fingern berührte.
    Über Amandas Bett hing eine Glühbirne an einem Kabel. Die Lüsterklemme war zu sehen, die freiliegenden Drähte waren verstaubt. Die Decke hatte einen Neuanstrich bitter nötig, und die Poster waren durch die Sommerhitze von den Wänden gefallen. Drei sah ich aufgerollt und zerknittert vor den Fußleisten liegen. An den Wänden bildeten die Klebestreifen, die die Poster gehalten hatten, schiefe Rechtecke. Es war nicht zu erkennen, wie lange sie schon so zerknickt auf dem Boden lagen.
    Die Wohnung war genauso aufgeteilt und geschnitten wie meine und wie die der meisten Leute in dieser Gegend,

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