Kein Kinderspiel
die in Mietshäusern wohnten. Amandas Zimmer war nur halb so groß wie das Schlafzimmer von Helene. Ich nahm an, daß es rechts hinter dem Badezimmer lag, gegenüber der Küche. Von dort aus konnte man auf die hintere Veranda und in den kleinen Hof sehen. Amandas Zimmer ging auf das Nachbarhaus und war wahrscheinlich schon mittags so dunkel wie jetzt, um acht Uhr abends.
Der Raum war muffig und spärlich möbliert. Die Kommode gegenüber des Bettes sah aus, als sei sie auf einem Flohmarkt erstanden worden, und das Bett selbst hatte kein Gestell. Es bestand lediglich aus einer auf dem Boden liegenden Matratze mit Rahmen und war mit einem Laken bezogen, das nicht zum Überwurf paßte. Eine Steppdecke mit dem König der Löwen war wegen der Hitze zur Seite geschoben worden.
Am Fußende des Bettes lag eine Puppe, die ausdruckslos an die Decke starrte; neben der Kommode lag ein Stoffhase auf der Seite. Auf der Kommode stand ein alter Schwarzweißfernseher, und auf dem Nachtschrank sah ich ein kleines Radio, doch konnte ich im ganzen Zimmer keine Bücher entdecken, nicht einmal Malbücher.
Ich versuchte mir das Mädchen vorzustellen, das in diesem Zimmer geschlafen hatte. In den letzten Tagen hatte ich genügend Fotos von Amanda gesehen, um zu wissen, wie sie aussah, doch ihr Aussehen verriet mir noch lange nicht, was für einen Gesichtsausdruck sie gehabt hatte, wenn sie am Ende eines Tages in das Zimmer kam oder morgens darin aufwachte.
Hatte sie versucht, die Poster wieder aufzuhängen? Hatte sie die knallblauen und -gelben Bücher mit ausklappbaren Seiten haben wollen, die überall angeboten wurden? Wenn sie nachts in diesem dunklen, stillen Zimmer wach lag und einsam war, hatte sie dann den Nagel angestarrt, der gegenüber vom Bett aus der Wand ragte? Oder hatte sie den blaßbraunen Wasserfleck in der Ecke an der Decke betrachtet?
Ich blickte in die häßlichen, glänzenden Puppenaugen und verspürte den Drang, sie mit dem Fuß zu schließen.
»Mr. Kenzie, Miss Gennaro«, erklang Beatrices Stimme aus der Küche.
Angie und ich warfen einen letzten Blick auf das Zimmer, dann schaltete ich den Lichtschalter wieder mit dem Schlüssel aus. Zusammen gingen wir in die Küche.
Gegen den Herd gelehnt, stand ein Mann, die Hände in den Taschen vergraben. In seinem Blick, als wir auf ihn zukamen, las ich, daß er auf uns gewartet hatte. Er war ein bißchen kleiner als ich, aber kugelrund wie ein Ölfaß. Er hatte ein jungenhaftes, freundliches Gesicht, das leicht gerötet war, so als würde er viel Zeit draußen verbringen. Die Haut an seinem Hals war schlaff und klemmte im Hemdkragen -typisch für Menschen, die sich der Rente nähern. Doch lag eine Härte in seinem Blick, eine Unerbittlichkeit, die uralt zu sein schien und das gesamte Leben seines Gegenübers auf einen Blick abschätzen konnte.
»Lieutenant Jack Doyle«, stellte er sich vor und streckte mir seine Hand entgegen.
Ich schüttelte sie. »Patrick Kenzie.«
Angie stellte sich ebenfalls vor und schüttelte ihm die Hand. Dann standen wir in der kleinen Küche vor ihm, und er betrachtete uns aufmerksam. Sein Gesicht war ausdruckslos, doch sein Blick war so intensiv wie ein Magnet. Irgend etwas darin zwang die Menschen, ihn anzusehen, auch wenn sie wußten, daß sie den Blick besser abwenden sollten.
In den letzten Tagen hatte ich ihn ein paarmal im Fernsehen gesehen. Er war der Leiter der Ermittlungsgruppe Kind bei der Polizei von Boston. Wenn er in die Kamera blickte und erklärte, daß er Amanda McCready finden würde, egal wie, dann tat einem der Entführer einen kurzen Augenblick lang leid.
»Lieutenant Doyle wollte Sie gerne kennenlernen«, erklärte Beatrice.
»Das ist ja jetzt passiert«, gab ich zurück.
Doyle grinste. »Haben Sie kurz Zeit?«
Ohne eine Antwort abzuwarten, ging er zur Verandatür, öffnete sie und sah sich über die Schulter nach uns um.
»Scheinbar ja«, sagte Angie.
Das Geländer der Veranda mußte noch dringender gestrichen werden als die Decke von Amandas Zimmer. Sobald sich einer von uns dagegenlehnte, knisterte die blättrige, von der Sonne ausgetrocknete Farbe unter unseren Armen.
Ein paar Häuser weiter wurde gegrillt, das roch man; und irgendwo im nächsten Häuserblock hatte man sich im Hinterhof versammelt - ich hörte eine laute Frauenstimme, die über einen Sonnenbrand schimpfte, und ein Radio spielte die Mighty Mighty Bosstones, dazwischen plötzliches, scharfes Gelächter wie Eiswürfel im Glas. Kaum zu glauben,
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