Kein Kinderspiel
Kind verschwunden ist. Ihre Freunde hatten Shannon das letzte Mal gesehen, als sie mit dem Fahrrad nach Hause fuhr, und ein paar meinten, hinter ihr wäre ein Auto ganz langsam hergefahren.« Er rieb sich mit den Handrücken über die Augen und atmete tief aus. »Am nächsten Morgen fanden wir sie in einem Abwassergraben in der Nähe von einem Park. Sie war vom Fahrrad gefallen und hatte sich beide Knöchel gebrochen. Vor Schmerz war sie ohnmächtig geworden.«
Er betrachtete unseren Gesichtsausdruck und hob die Hand.
»Ihr ging’s gut«, sagte er. »Zwei kaputte Knöchel tun zwar höllisch weh, und ‘ne Zeitlang war sie ziemlich ängstlich, aber insgesamt war das das Schlimmste, was sie oder meine Frau und ich in unserem ganzen Leben durchmachen mußten. Da haben wir Glück gehabt. Scheiße, Riesenglück einfach.« Er bekreuzigte sich schnell. »Was ich damit sagen will? Als Shannon weg war und die ganze Gegend und meine ganzen Kollegen nach ihr suchten und Tricia und ich überall hinfuhren und hinliefen und fast verrückt wurden, haben wir uns hingesetzt und ‘ne Tasse Kaffee getrunken. Damit wir nicht umkippten. Aber in den zwei Minuten, als wir bei Dunkin’ Donuts standen und auf unsern Kaffee warteten, da gucke ich Tricia an und sie guckt mich an, und ohne was zu sagen, wissen wir beide, daß unser Leben vorbei ist, wenn Shannon tot ist. Unsere Ehe - vorbei. Unser Glück - vorbei. Unser Leben würde nur noch Leiden sein. Sonst nichts. Alles Gute, unsere ganze Hoffnung, alles, wofür wir lebten, würde mit unserer Tochter sterben.«
»Und deshalb sind Sie zur Ermittlungsgruppe Kind gegangen?« fragte ich.
»Deshalb habe ich die Ermittlungsgruppe Kind gegründet«, erwiderte er. »Das ist mein Baby. Ich habe sie aufgebaut. Hat fünfzehn Jahre gedauert, aber ich hab’s geschafft. Es gibt die EGK, weil ich meiner Frau damals in diesem Doughnut-Laden in die Augen gesehen habe und in diesem Moment ohne jeden Zweifel wußte, daß niemand den Verlust eines Kindes ertragen kann. Niemand. Sie nicht, ich nicht, nicht mal so ein Loser wie Helene McCready.«
»Helene soll ein Loser sein?« fragte Angie.
Er hob eine Augenbraue. »Wissen Sie, warum sie zu ihrer Freundin Dottie gegangen ist statt andersherum?«
Wir schüttelten den Kopf,
»Die Bildröhre von ihrem Fernseher war hinüber. Mal war’s in Farbe und mal nicht - das gefiel Helene nicht. Hat sie also ihr Kind allein gelassen und ist eine Tür weiter gegangen.«
»Zum Fernsehen.«
Er nickte. »Zum Fernsehen.«
»Wow!« sagte Angie.
Er sah uns eine geschlagene Minute lang an, dann zog er seine Hose hoch und sagte: »Zwei meiner besten Leute, Poole und Broussard, werden sich bei Ihnen melden. Das sind Ihre Ansprechpartner. Wenn Sie helfen können, komme ich Ihnen nicht in die Quere.« Wieder rieb er sich mit den Handrücken übers Gesicht und schüttelte den Kopf. »Scheiße, bin ich müde.«
»Wann haben Sie denn das letzte Mal geschlafen?« erkundigte sich Angie.
»Mehr als ein Nickerchen?« Er kicherte in sich hinein. » Muß ein paar Tage her sein.«
»Sie müssen doch jemanden haben, der sie ablöst«, meinte Angie.
»Will keine Ablösung«, gab er zurück. »Ich will dieses Kind. Und zwar in einem Stück. Und zwar auf der Stelle.«
3
Helene McCready betrachtete sich selbst im Fernsehen, als wir das Haus von Lionel und Beatrice betraten.
Die Helene im Fernsehen trug ein hellblaues Kleid mit einer passenden Jacke, an deren Revers eine riesige weiße Rose befestigt war. Das Haar fiel ihr auf die Schultern. Ihr Gesicht wirkte ein wenig zu stark geschminkt, um die Augen herum war die Farbe etwas hastig aufgetragen.
Die echte Helene McCready trug ein rosa T-Shirt mit der Aufschrift BORN TO SHOP über der Brust und eine weiße Jogginghose, die über dem Knie abgeschnitten war. Das Haar war zu einem lockeren Pferdeschwanz gebunden und sah aus, als sei es so oft gefärbt worden, daß es seine ursprüngliche Farbe vergessen hatte. Jetzt lag sie irgendwo zwischen Platin-und Weizenblond.
Neben der echten Helene McCready saß eine zweite Frau auf der Couch, die ungefähr genauso alt, aber dicker und blasser war. Zellulitisdellen zeichneten sich im weißen Fleisch ihrer Oberarme ab, als sie die Zigarette an die Lippen führte und sich vorbeugte, um sich auf den Fernseher zu konzentrieren.
»Guck mal, Dottie, da!« rief Helene. »Das sind Gregor und Head Sparks!«
»O ja!« Dottie zeigte auf die Mattscheibe, wo zwei Männer einem Journalisten folgten,
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