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Kein Kinderspiel

Kein Kinderspiel

Titel: Kein Kinderspiel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dennis Lehane
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Barkeeper schon hochgestellt hatte. Irgendwie hatte ich gedacht, sie sei schon gegangen.
    Vielleicht hatte ich es auch nur gehofft.
    »Danke schön«, wiederholte sie ganz leise, »daß ihr es versucht habt.«
    Ich stand dort auf den Gummifliesen und merkte, daß ich nicht wußte, wohin mit den Händen. Und den Armen. Und allen anderen Körperteilen. Ich fühlte mich linkisch und unbeholfen.
    Helene sah nicht von ihrem Glas auf, das ungewaschene Haar fiel ihr ins Gesicht. Verloren saß sie zwischen den umgedrehten Hockern in dem trüben Licht, das die Kneipe noch erleuchtete.
    Ich wußte nicht, was ich sagen sollte. Ich war mir noch nicht einmal sicher, ob ich sprechen konnte. Ich wollte zu ihr gehen, sie in den Arm nehmen und mich dafür entschuldigen, daß ich ihre Tochter nicht gerettet hatte, daß ich Amanda nicht gefunden hatte, daß ich versagt hatte. Ich hätte am liebsten geheult.
    Statt dessen drehte ich mich um und ging zur Tür.
    »Mr. Kenzie.«
    Ich hielt inne, wandte mich aber nicht um.
    »Ich würde alles anders machen«, sagte sie, »wenn ich könnte. Ich würde… ich würde sie keine Sekunde aus den Augen lassen.«
    Ich weiß nicht, ob ich nickte oder ihr irgendwie zeigte, daß ich sie verstanden hatte. Aber ich weiß, daß ich mich nicht umdrehte. Ich sah zu, daß ich nach draußen kam.
    Am nächsten Morgen wachte ich vor Angie auf und kochte in der Küche Kaffee.
    Ich versuchte, Helene McCready und ihre furchtbaren Worte aus meinem Kopf zu vertreiben.
    »Danke schön.«
    Ich ging die Zeitung holen, klemmte sie mir unter den Arm und stieg wieder nach oben. Ich goß mir eine Tasse Kaffee ein und nahm sie mit ins Eßzimmer, wo ich die Zeitung aufschlug und erfuhr, daß das nächste Kind verschwunden war.
    Es hieß Samuel Pietro und war acht Jahre alt.
    Er war zuletzt gesehen worden, als er am Samstag nachmittag von einem Spielplatz in Weymouth nach Hause ging. Jetzt war Montag morgen. Seine Mutter hatte ihn erst gestern vermißt gemeldet.
    Er war ein hübscher Junge mit großen dunklen Augen, die mich an Angies erinnerten. Das Foto von ihm war aus dem Abschlußfoto der dritten Klasse geschnitten worden. Er hatte ein freundliches, schiefes Lächeln. Er sah zuversichtlich aus, jung, hoffnungsvoll.
    Ich überlegte kurz, die Zeitung vor Angie zu verstecken. Seitdem wir Rays Cousin in Allegheny verlassen hatten und unsere Entschlossenheit und Energie dort irgendwo auf der Strecke geblieben war, beschäftigte sich Angie noch stärker mit Amanda McCready. Doch suchte sich diese Besessenheit kein Ventil, da es nicht viel zu tun gab. Und so brütete Angie stundenlang über unseren Aufzeichnungen, erstellte auf riesigen Zetteln Tabellen über die Zeitabläufe und Schlüsselfiguren und unterhielt sich immer wieder mit Broussard oder Poole. Unzählige Male ging es um die gleichen Fragen. Sie drehten sich im Kreis.
    Diese langen Gespräche ergaben keine neuen Theorien oder überraschenden Antworten, auch lieferten die Tabellen keine neuen Erkenntnisse, doch Angie hielt daran fest. Und jedesmal, wenn ein Kind vermißt wurde und darüber in den landesweiten Nachrichten berichtet wurde, lauschte sie gebannt auch noch den kleinsten Details.
    Wenn die Kinder tot aufgefunden wurden, weinte sie.
    Immer heimlich, immer hinter verschlossenen Türen, immer wenn sie glaubte, ich befände mich am anderen Ende der Wohnung und hörte sie nicht.
    Mir war erst vor kurzem klargeworden, wie tief der Tod ihres Vaters Angie getroffen hatte. Nicht das Sterben an sich, das glaube ich nicht. Nein, es war die Ungewißheit, auf welche Weise er gestorben war. Ohne eine Leiche, die man im Boden versenken konnte, war ihr Vater für sie vielleicht nie richtig tot gewesen.
    Einmal war ich dabei, als sie Poole danach fragte. Und ich sah in Pooles Gesicht die Angst davor, seine Antwort könne ungenügend sein. Er erklärte Angie, daß er den Mann kaum gekannt habe, ihn lediglich hin und wieder auf der Straße gesehen oder bei einer Glücksspielrazzia in irgendeinem Hinterzimmer getroffen habe. Der schöne Jimmy, immer der perfekte Gentleman, ein Mann, der wußte, daß die Bullen genauso ihren Job machten wie er auch.
    »Sie sind immer noch nicht drüber weg, hm?« hatte Poole gefragt.
    »Nicht so richtig«, gab Angie zu. »Das Problem ist, den Kopf dazu zu bringen, es zu akzeptieren, obwohl das Herz sich nie so richtig daran gewöhnen kann.«
    Und so war es auch mit Amanda McCready. So war es mit allen Kindern, die während der langen

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