Kein Kinderspiel
keinen Grund für ihn, sich weiter zu verstecken. Über mehrere Monate verfielen Angie und ich zwischendurch immer mal wieder auf die Idee, das Haus seines Vaters einen Tag und eine Nacht zu bewachen, doch das einzige Ergebnis unserer Mühen war der Geschmack von kaltem Kaffee im Mund und steife Beine durch das stundenlange Herumsitzen im Auto. Im Januar setzte Angie eine Wanze ins Telefon von Lenny Likanski. Zwei Wochen lang hörten wir ihn ab und wurden Zeugen, wie er Telefonsexnummern wählte oder beim Home Shopping Service bepflanzbare Tierfiguren aus Terrakotta bestellte, doch nicht ein einziges Mal meldete er sich bei seinem Sohn oder wurde von ihm angerufen.
Eines Tages hatten wir die Nase voll und fuhren über Nacht nach Allegheny, Pennsylvania. Wir fanden die Likanski-Sippe im Telefonbuch und überwachten sie ein Wochenende lang. Die drei Brüder Yardack, Leslie und Stanley waren Cousins von Ray. Alle drei arbeiteten in einer Papierfabrik, die die Luft mit Abgasen verpestete, so daß es in der Gegend wie in einem Kopiergeschäft stank. Jeden Abend betranken sich die drei in derselben Kneipe, flirteten mit denselben Frauen und kehrten allein in ihr gemeinsames Haus zurück.
Am vierten Abend folgten Angie und ich Stanley in eine kleine Gasse, wo er einer Frau auf einer Enduro Koks abkaufte. Sobald die Enduro die Gasse verlassen hatte und Stanley den Stoff auf seinem Handrücken verteilte und schnupfte, trat ich hinter ihn und kitzelte ihn mit meiner .45 am Ohrläppchen. Ich fragte ihn, wo sein Cousin Ray sei.
Stanleys Blase entleerte sich an Ort und Stelle; zwischen seinen Füßen dampfte der gefrorene Boden. »Keine Ahnung, Mann. Ich hab Ray vorletzten Sommer das letzte Mal gesehen.«
Ich spannte den Hahn und stieß ihm den Lauf gegen die Schläfe.
»O Gott, nein!« betete Stanley.
»Du lügst mich an, Stanley, deshalb muß ich dich jetzt leider erschießen, okay?«
»Bitte nicht! Ich weiß es nicht! Ich schwöre bei Gott! Ray, Ray, den habe ich seit fast zwei Jahren nicht mehr gesehen. Bitte glaubt mir, um Himmels willen!«
Ich warf Angie einen fragenden Blick zu, die ihm ins Gesicht starrte. Sie nickte. Stanley sagte die Wahrheit.
»Koks macht den Schwanz weich«, sagte Angie zu ihm. Dann kehrten wir zu unserem Auto zurück und verließen Pennsylvania.
Einmal pro Woche besuchten wir Beatrice und Lionel. Ein ums andere Mal gingen wir gemeinsam durch, was wir wußten und was nicht. Letzteres schien immer mehr zu werden. Eines Abends Ende Februar, als wir uns gerade von ihnen verabschieden wollten und sie vor Kälte zitternd auf der Veranda standen, um sich wie immer zu vergewissern, daß uns auf dem Weg zum Auto nichts zustieß, sagte Beatrice: »Ich denke immer über den Grabstein nach.«
Wir hielten kurz vor dem Bürgersteig inne und drehten uns zu ihr um.
»Was?« fragte Lionel.
»Nachts«, antwortete Beatrice, »wenn ich nicht schlafen kann, dann überlege ich immer, was wir auf ihren Grabstein schreiben sollen. Und ob wir ihr einen besorgen sollen.«
»Schatz, laß doch…«
Sie schnitt ihm das Wort ab und zog die Strickjacke fester um sich: »Ich weiß, ich weiß. Es sieht so aus, als würden wir aufgeben, als würden wir zugeben, daß sie tot ist, obwohl wir glauben wollen, daß sie noch lebt. Ich weiß. Aber… ich meine… es gibt nichts, keinen Hinweis, daß es sie überhaupt gegeben hat.« Sie wies auf die Veranda. »Hier ist nichts, was uns daran erinnert, daß sie gelebt hat. Unser Gedächtnis ist nicht gut genug, verstehst du? Es verblaßt langsam.« Sie nickte sich zu. »Es verblaßt«, wiederholte sie und ging zurück ins Haus.
Einmal sah ich Helene Ende März, als ich mit Bubba in Kelly’s Tavern Darts spielte, aber sie nahm mich nicht wahr oder tat wenigstens so. Sie saß allein in einer Ecke der Kneipe und hatte eine volle Stunde lang ein einziges Glas vor sich. Sie starrte in das Glas, als schwämme das Bild von Amanda in der Flüssigkeit.
Bubba und ich waren erst spät gekommen und gingen nach dem Dartspiel zum Billardtisch. In dem Moment stürzten all die Gäste herein, die noch ihre letzte Bestellung aufgeben wollten, und innerhalb von zehn Minuten standen sie in Dreierreihen vor der Theke. Dann war Schluß. Bubba und ich beendeten unser Spiel, tranken unser Bier aus und stellten die leeren Gläser auf dem Weg zur Tür auf den Tresen.
»Danke schön.«
Ich drehte mich um und sah die Theke entlang. Dort saß Helene in einer Ecke, umgeben von Barhockern, die der
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