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Kein Kinderspiel

Kein Kinderspiel

Titel: Kein Kinderspiel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dennis Lehane
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Wintermonate im ganzen Land verschwanden und nicht wieder gefunden wurden, weder tot noch lebendig. Vielleicht, überlegte ich mir einmal, war ich Privatdetektiv geworden, weil ich gespannt war, was als nächstes passierte. Vielleicht war Angie einer geworden, weil sie die Ungewißheit nicht ertragen konnte.
    Ich sah mir das lachende, zuversichtliche Gesicht von Samuel Pietro an, betrachtete seine Augen, in denen man versinken konnte wie in Angies.
    Ich wußte, daß es sinnlos war, die Zeitung zu verstecken. Es würde auch in anderen Zeitungen stehen, würde im Fernsehen und im Radio bekanntgegeben werden, Leute im Supermarkt und in der Kneipe oder beim Tanken würden darüber sprechen.
    Vielleicht war es vor vierzig Jahren noch möglich, den Nachrichten aus dem Weg zu gehen, heute war es das nicht mehr. Die Nachrichten waren überall, sie informierten uns, wurden uns eingebleut, klärten uns vielleicht sogar auf. Aber sie waren immer da. Immer. Man konnte ihnen nicht entkommen, konnte sich nicht vor ihnen verstecken.
    Mit dem Finger fuhr ich den Umriß von Samuel Pietros Gesicht nach und schickte zum ersten Mal seit fünfzehn Jahren ein Stoßgebet zum Himmel.

DRITTER TEIL
    Der grausamste Monat

24
    Als es April wurde, verbrachte Angie mittlerweile fast jede Nacht mit den Tabellen und Aufzeichnungen des Amanda-McCready-Falls und dem kleinen Schrein, den sie in dem winzigen zweiten Schlafzimmer in meiner Wohnung errichtet hatte. Normalerweise hatte ich darin Koffer und Kisten aufbewahrt, die ich irgendwann bei der Wohlfahrt abgeben wollte, und kleine Elektrogeräte, die darauf warteten, daß ich sie zur Reparatur brachte.
    Angie hatte den kleinen Fernseher und einen Videorekorder in das Zimmer gestellt und sah sich immer wieder die Nachrichten vom Oktober an. Seitdem Samuel Pietro vor zwei Wochen verschwunden war, hatte sie jeden Abend mindestens fünf Stunden in dem Zimmer verbracht, an dessen Wand über dem Fernseher Fotos von Amanda hingen, auf denen sie den Betrachter ungerührt ansah.
    Wie die meisten Leute wohl auch, war ich der Ansicht, daß diese Art von Besessenheit Angie bisher noch nicht schadete. Im Laufe des langen Winters hatte ich mich an die Vorstellung gewöhnt, daß Amanda McCready tot war. Ich stellte mir vor, daß sie zusammengerollt auf einem Felsvorsprung in 60 Metern Tiefe lag und das flachsfarbene Haar von den kleinen Launen der Strömung hin-und hergetrieben wurde. Aber ich war noch nicht soweit, daß ich jeden, der noch glaubte, daß sie am Leben war, belächelte oder mich über ihn lustig machte.
    Angie klammerte sich an Cheese’ Behauptung, daß Amanda noch am Leben sei. Sie war überzeugt, daß der Hinweis auf ihren Aufenthaltsort irgendwo in unseren Aufzeichnungen verborgen war, irgendwo in unseren Protokollen oder denen der Polizei. Sie hatte Broussard und Poole überredet, ihr Kopien von ihren Notizen und den täglichen Berichten zu überlassen. Auch bekam sie die Abschriften fast aller Verhöre, die die übrigen mit dem Fall befaßten Mitglieder der Ermittlungsgruppe Kind geführt hatten. Und sie war überzeugt, sagte sie mir, daß das ganze Papier-und Filmmaterial früher oder später die Wahrheit enthüllen würde.
    Die Wahrheit, sagte ich einmal zu ihr, lautete, daß einer von Cheese’ Leuten Mullen und Gutierrez verraten hatte, nachdem sie Amanda die Klippe hinuntergeworfen hatten. Anschließend legte er sie um und ging um zweihunderttausend Dollar reicher nach Hause. »Cheese war da anderer Ansicht«, gab sie zurück. »Aber Broussard hatte recht. Cheese war ein notorischer Lügner.« Sie zuckte mit den Achseln. »Das sehe ich anders.« Und so kehrte sie nachts zurück in den Herbst und ging alles durch, was falsch gelaufen war. Ich dagegen las ein Buch, sah mir einen alten Film auf AMC an oder ging mit Bubba Billard spielen. Das tat ich auch gerade, als er zu mir sagte: »Ich brauche dich nächste Woche als Unterstützung bei einer Sache in Germantown.«
    Zu dem Zeitpunkt hatte ich erst ein halbes Bier getrunken, so daß ich mir ziemlich sicher war, ihn richtig verstanden zu haben.
    »Du willst, daß ich dich bei einem Geschäft begleite?«
    Ich starrte Bubba über den Billardtisch an, als irgendein Idiot in der Musikbox ein Lied von The Smiths wählte. Ich hasse The Smiths. Lieber würde ich an einen Stuhl gefesselt und gezwungen werden, Lieder von Suzanne Vega und Natalie Merchant anzuhören, während sich Performancekünstler vor meinen Augen Nägel durch die Genitalien

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