Kein Kinderspiel
gab, ihre Tochter unabsichtlich vom Sitz warf und über sie fiel. Lachend lag sie auf dem Boden, und Amanda stand auf, wischte sich den Dreck von den Knien und sah nach, ob sie sich verletzt hatte.
Im Verlauf des Sommers hatte Amandas Haut an einigen Stellen Blasen geworfen und war vernarbt, weil Helene immer wieder vergaß, die Salben aufzutragen, die ihr die Ärztin in der Notaufnahme verschrieben hatte.
Und im September erzählte Helene dann, daß sie fortziehen wolle.
»Was?« fragte ich. »Davon habe ich gar nichts gewußt.«
Lionel zuckte mit den Achseln. »Im nachhinein war es nur eine von ihren verrückten Ideen. Sie hatte eine Freundin, die nach Myrtle Beach, South Carolina, gezogen war und einen Job in einem T-Shirt-Laden bekommen hatte. Sie erzählte Helene, dort würde immer die Sonne scheinen, der Alkohol würde in Strömen fließen, kein Schnee, keine Kälte mehr. Nur am Strand sitzen und hin und wieder ein T-Shirt verkaufen. Eine Woche lang redete Helene von nichts anderem mehr. Normalerweise hätte ich mir nichts draus gemacht. Sie redete ständig davon, woanders hinzuziehen, so wie sie auch immer glaubte, sie würde irgendwann im Lotto gewinnen. Ich weiß nicht warum, aber diesmal bekam ich Panik. Ich dachte nur noch, sie nimmt Amanda mit. Dann läßt sie sie allein am Strand oder in ihrem Bett liegen, und Beatrice und ich sind nicht mehr in der Nähe, um ihr aus der Patsche zu helfen. Ich bin einfach… einfach durchgedreht. Ich rief Broussard an. Ich traf mich mit den Leuten, die Amanda annehmen wollten.«
»Und die heißen?« Ryersons Stift schwebte über dem Block.
Lionel überhörte die Frage. »Sie sind klasse. Wirklich toll. Haben ein wunderschönes Haus. Und sie lieben Kinder. Ihre eigene Tochter war schon erwachsen, und nun, da sie ausgezogen war, fühlten sie sich einsam. Sie kommen ganz toll mit ihr klar«, sagte er leise.
»Sie haben sie also gesehen«, folgerte ich.
Er nickte. »Sie ist glücklich. Jetzt kann sie sogar lachen.« Etwas saß ihm im Hals, er mußte schlucken. »Sie weiß nicht, daß ich sie gesehen habe. Broussards oberstes Gesetz lautete, ihre Vergangenheit müßte ausgelöscht sein. Sie ist vier Jahre. Sie wird es vergessen, mit der Zeit. Ach nein«, sagte er langsam, »sie ist jetzt schon fünf, oder?«
Die Erkenntnis, daß Amanda ihren Geburtstag ohne ihn gefeiert hatte, machte sich auf seinem traurigen Gesicht breit. Schnell schüttelte er den Kopf. »Egal, jedenfalls habe ich mich dahin geschlichen und ihr mit ihren neuen Eltern zugesehen - sie macht so einen glücklichen Eindruck! Sie sieht…« Er räusperte sich und wich unserem Blick aus. »Sie sieht geliebt aus.«
»Was geschah in der Nacht, als sie verschwand?« fragte Ryerson.
»Ich betrat das Haus durch die Hintertür. Ich nahm sie mit und sagte ihr, es wäre ein Spiel. Amanda liebt Spiele. Vielleicht, weil es sich bei Helene darauf beschränkte, in die nächste Kneipe zu gehen und Amanda vor den Computer mit dem Pac-Man zu setzen.« Er ließ einen Eiswürfel aus dem Glas in den Mund gleiten und kaute darauf herum. »Broussard wartete im Auto auf der Straße. Ich stand im Eingang und sagte Amanda, sie müsse jetzt ganz, ganz leise sein. Der einzige Nachbar, der uns hätte sehen können, war Mrs. Driscoll auf der anderen Straßenseite. Sie saß auf ihrer Veranda und konnte genau auf Helenes Haustür gucken. Als sie kurz im Haus verschwand, um sich eine Tasse Tee oder so zu holen, gab mir Broussard ein Zeichen. Ich trug Amanda zu seinem Auto, und wir fuhren los.« »Und niemand hat etwas gesehen«, sagte ich. »Keiner von den Nachbarn. Später bekamen wir aber heraus, daß Chris Mullen uns gesehen hatte. Er saß in seinem Auto und beobachtete das Haus. Er wartete darauf, daß Helene zurückkam, weil er herausfinden wollte, wo sie das gestohlene Geld versteckt hatte. Mullen erkannte Broussard. Cheese Olamon erpreßte Broussard, um das verschwundene Geld zurückzubekommen. Außerdem sollte er Drogen aus der Asservatenkammer stehlen und sie Mullen in der Nacht am Steinbruch übergeben.«
»Zurück zu der Nacht von Amandas Entführung«, sagte ich.
Mit seinen dicken Fingern holte er den zweiten Eiswürfel aus dem Glas und schob ihn in den Mund. »Ich erzählte Amanda, mein Freund würde sie zu ganz netten Leuten bringen. Ich würde in ein paar Stunden nachkommen. Sie nickte einfach nur. Sie war es gewohnt, bei Fremden abgesetzt zu werden. Ein paar Häuserblöcke weiter stieg ich aus und ging nach Hause.
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