Kein Kinderspiel
Es war halb elf. Meine Schwester brauchte fast zwölf Stunden, um zu merken, daß ihre Tochter weg war. Was sagt Ihnen das?«
Eine Weile waren wir so still, daß wir das Aufschlagen der Pfeile auf der Korkscheibe im hinteren Teil der Kneipe hören konnten.
»Ich hatte mir vorgenommen«, fuhr Lionel fort, »Beatrice von der Sache zu erzählen, wenn die Zeit reif war, dann würde sie es schon verstehen. Nicht jetzt sofort. Wenn ein paar Jahre ins Land gegangen waren, dann vielleicht. Ich weiß es nicht. Hatte es mir nicht richtig überlegt. Beatrice haßt Helene, und sie liebt Amanda, aber so eine Aktion… Wißt ihr, sie glaubt an das Gesetz, an die Vorschriften. Sie hätte so eine Sache nie im Leben gutgeheißen. Aber ich hoffte, daß sie vielleicht irgendwann, wenn Gras darüber gewachsen war…« Er blickte zur Decke auf und schüttelte leicht den Kopf. »Dann kam sie auf die Idee, sich an Sie zu wenden. Ich setzte mich mit Broussard in Verbindung, und er sagte, ich solle versuchen, ihr das auszureden, aber nicht zu auffällig. Wenn sie unbedingt wollte, sollte ich sie gewähren lassen. Am nächsten Tag erzählte er mir, wenn es hart auf hart käme, hätte er etwas gegen euch in der Hand. Hatte mit einem toten Luden zu tun.«
Ryerson sah mich mit erhobener Augenbraue und einem neugierigen Lächeln an.
Ich zuckte mit den Schultern und wandte den Blick ab, und in dem Moment sah ich den Typ mit der Popeye-Maske. Er kam durch den hinteren Notausgang herein, in der rechten ausgestreckten Hand eine .45 Automatik auf Brusthöhe.
Sein Partner schwang drohend ein Gewehr. Auch er trug eine Halloweenmaske aus Plastik. Das weiße Mondgesicht von Casper, dem freundlichen Geist, starrte uns an, als er durch die Eingangstür trat und rief: »Hände auf den Tisch! Alle! Los!«
Popeye trieb die beiden Dartspieler vor sich her. Ich wandte mich um und konnte gerade noch sehen, daß Casper den Riegel vor die Eingangstür schob.
»Hey du!« schrie Popeye mich an. »Taub? Die verdammten Hände auf den Tisch!«
Ich legte die Hände auf den Tisch.
Der Mann hinter der Theke sagte: »Oh Scheiße, bitte nicht.«
Casper zog an einer Kordel am Fenster, und ein schwerer, schwarzer Vorhang fiel vor die Scheibe.
Lionel neben mir atmete flach. Seine Hände lagen ausgestreckt auf dem Tisch, er bewegte sie nicht. Ryerson ließ eine Hand unter den Tisch sinken, Angie tat es ihm nach.
Popeye schlug einem der Dartspieler mit der Faust auf den Rücken. »Runter! Auf den Boden. Hände hinter den Kopf! Los! Mach schon!«
Beide Männer ließen sich auf die Knie fallen und falteten die Hände im Nacken. Popeye sah sie an und legte den Kopf schief. Ein schrecklicher Augenblick, der das Schlimmste befürchten ließ. Popeye konnte tun, was er wollte. Die beiden erschießen, uns erschießen, ihnen den Hals durchschneiden. Was ihm gerade einfiel.
Dem älteren der beiden trat er in den Hintern.
»Nicht auf die Knie. Auf den Bauch. Los!«
Neben mir ließen sich die Männer auf den Bauch fallen.
Ganz langsam wandte Popeye den Kopf und heftete die Augen auf unseren Tisch.
»Die verdammten Hände auf den Tisch!« zischteer. »Oder ihr seid tot.«
Ryerson zog die Hand unter dem Tisch hervor, hielt die leeren Hände hoch und legte sie dann flach auf den Holztisch, Angie ebenfalls.
Casper ging zur Theke gegenüber von uns. Er richtete das Gewehr auf den Barkeeper.
Zwei Frauen mittleren Alters, nach ihrer Kleidung zu urteilen Büroangestellte oder Sekretärinnen, saßen direkt vor Casper mitten im Raum. Als er das Gewehr anlegte, streifte er das Haar von einer der beiden. Sie zuckte zusammen und warf den Kopf zur Seite. Ihre Begleiterin stöhnte.
Die erste Frau sagte: »Oh Gott, oh nein.«
Casper sagte: »Ruhig Blut, die Damen. In ein, zwei Minuten ist das Ganze hier vorbei.« Er zog einen grünen Müllbeutel aus der Tasche seiner ledernen Bomberjacke und warf ihn vor dem Barkeeper auf die Theke. »Vollmachen! Auch das Geld aus dem Safe.«
»Ich hab’ nicht viel«, erwiderte der Barkeeper.
»Steck rein, was da ist«, befahl Casper.
Popeye kontrollierte die Gäste. Er stand mit gespreizten Beinen und leicht gebeugten Knien da. Mit der .45 beschrieb er einen Halbkreis von links nach rechts und wieder zurück. Er war ungefähr dreieinhalb Meter von mir entfernt. Ich konnte ihn hinter der Maske ruhig und gleichmäßig atmen hören.
Casper hatte dieselbe Körperhaltung, nur richtete er das Gewehr auf den Barmann. Im Spiegel hinter der Theke
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