Kein Kinderspiel
die untergehende Sonne, die vom Tribünendach gespiegelt wurde. Dann machte sie sich wieder ans Graben.
»In dieser Hinsicht ist Amanda wie Kerry«, sagte Sonya. »Sie reagiert nicht groß auf unmittelbare Stimulation.«
»Ist sie introvertiert?« fragte Angie.
»Auch, aber nicht so, daß man den Eindruck hat, hinter ihrer Stirn wäre eine Menge los. Es liegt nicht daran, daß sie in ihrer kleinen Welt eingeschlossen ist, sondern eher daran, daß sie in unserer Welt nicht viel interessant findet.« Sie drehte sich um und sah zu mir hoch. Etwas Hartes und Trauriges lag in ihrem vorgeschobenen Kinn und dem entschlossenen Blick. »Kennen Sie Helene?«
» Ja. «
»Und was halten Sie von ihr?«
Ich zuckte mit den Achseln.
Sie lächelte. »Mehr fällt einem zu ihr nicht ein, oder?«
»Kommt sie zu den Spielen?« wollte Angie wissen.
»Einmal war sie da«, antwortete Sonya. »Einmal, und da war sie betrunken. Sie war zusammen mit Dottie Mahew da. Beide waren ziemlich durch den Wind und schrien herum. Ich glaube, Amanda hat sich geschämt. Sie hat mich die ganze Zeit gefragt, wann das Spiel vorbei ist.« Sie schüttelte den Kopf. »Kinder in dem Alter haben eine andere Vorstellung von Zeit als wir. Sie spüren nur, ob sie langsam oder schnell vergeht. An dem Tag muß Amanda das Spiel wie eine Ewigkeit vorgekommen sein.«
Inzwischen befanden sich noch mehr Eltern und Trainer auf dem Feld, daneben die meisten der Astros. Einige Kids warfen sich noch immer auf den Haufen, doch genauso viele hatten sich zu kleineren Gruppen zusammengefunden und spielten Fangen, warfen sich gegenseitig die Handschuhe zu oder wälzten sich einfach wie Seehundbabys auf dem Rasen.
»Miss Garabedian, haben Sie jemals gesehen, daß Fremde bei diesen Spielen zuguckten?« Angie zeigte ihr die Bilder von Corwin Earle, Leon und Roberta Trett.
Sie betrachtete sie und atmete laut ein, als sie Roberta erblickte. Schließlich schüttelte sie den Kopf.
»Sehen Sie den riesigen Kerl da hinten bei den Kindern?« Sie zeigte auf einen großen, breitschultrigen Mann Anfang Vierzig mit einem Kurzhaarschnitt. »Das ist Matthew Hoagland. Er ist ein Profi-Bodybuilder. Vor ein paar Jahren war er mal Mr. Massachusetts. Echt netter Typ. Und wie er seine Kinder liebt! Letztes Jahr stand hier mal so ein schäbiger Typ am Spielfeldrand und sah zu. Wir fanden alle, daß er komische Augen hatte. Matt sorgte dafür, daß er verschwand. Keine Ahnung, was er zu dem Typen sagte, aber er wurde kalkweiß und haute sofort ab. Seitdem war keiner mehr da. Vielleicht haben solche Leute so eine Art… Netzwerk und sagen es weiter oder so. Keine Ahnung. Aber bei unseren Spielen schauen keine Fremden zu.« Sie sah uns an. »Außer Sie beide, heißt das.«
Ich fuhr mir durchs Haar. »Sehe ich nicht schäbig aus?«
Sie kicherte. »Ein paar haben Sie erkannt, Mr. Kenzie. Wir wissen, daß Sie dieses Kind auf dem Spielplatz gerettet haben. Sie können jederzeit für jeden von uns den Babysitter machen.«
Angie stieß mich an. »Unser Held!«
»Sei bloß still!« gab ich zurück.
Es dauerte noch einmal zehn Minuten, bis auf dem Außenfeld wieder Ruhe herrschte und weitergespielt werden konnte.
In der Zwischenzeit stellte uns Sonya Garabedian einigen Eltern vor, die auf der Tribüne standen. Ein paar von ihnen kannten Helene und Amanda. Den Rest des Spiels unterhielten wir uns mit ihnen. Die Gespräche bestärkten uns darin, daß Helene McCready ein nur den eigenen Interessen verpflichteter Mensch war, doch konnten wir uns auch ein deutlicheres Bild von Amanda machen.
Im Gegensatz zu Helenes Darstellung von Amanda, sie habe wie eine Barbiepuppe immer nur gelächelt, behaupteten die meisten Leute, mit denen wir uns unterhielten, daß Amanda sehr selten lächelte, daß sie meistens apathisch wirkte und viel zu still für eine Vierjährige war.
»Unsere Jessica zum Beispiel!« schwärmte Frances Neagly. »Im Alter von zwei bis ungefähr fünf Jahren konnte sie keine fünf Minuten still sitzen. Und dann die ganzen Fragen! Immer nur: Mami, warum können Tiere nicht reden, so wie wir? Wieso haben wir Zehen? Wieso ist das Wasser manchmal kalt und manchmal heiß?« Frances lächelte uns müde an. »Ich meine, das ging so in einer Tour. Jede Mutter, die ich kenne, stöhnt, wie anstrengend solche Vierjährigen sind. In dem Alter entdecken sie die Welt jede Minute neu!«
»Und Amanda?« fragte Angie.
Frances Neagly lehnte sich zurück und warfeinen Blick auf das Stadion. Es war
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