Kein Kinderspiel
einem kurzen Lächeln zwang, eins der seltsamsten Lächeln, das ich je gesehen habe. Sie tätschelte meine Hand, und dann verzog sich ihr Mund und kurz darauf das ganze Gesicht. Tränen schossen ihr in die Augen, und sie versuchte, mich weiter anzulächeln und mir die Hand zu tätscheln.
Ich kannte diese Frau schon mein ganzes Leben und konnte an einer Hand abzählen, wie oft sie in meiner Gegenwart geweint hatte. Im Moment war mir nicht ganz klar, was diesen Gefühlsausbruch hervorgerufen hatte - schließlich hatte ich Angie schon in viel härteren Situationen als der in der Kneipe heute erlebt, die sie einfach so abgeschüttelt hatte -, doch was der Grund auch war, ihr Schmerz war echt. Es tat mir weh, ihn in ihrem Gesicht zu sehen.
Ich rutschte aus der Sitzecke und kam zu ihr herüber. Sie winkte mich weg, aber ich schob mich neben sie, und dann riß sie sich nicht länger zusammen. Sie krallte sich an meinem Hemd fest und weinte leise an meiner Schulter. Ich strich ihr übers Haar, küßte sie auf die Stirn und hielt sie einfach nur fest. Ich spürte, wie das Blut durch ihren Körper floß, während sie in meinen Armen zitterte.
»Ich fühle mich wie eine dumme Gans«, schimpfte Angie.
»Mach dich nicht lächerlich!« gab ich zurück.
Wir hatten das Ashmont Grille verlassen. Angie hatte mich gebeten, zum Columbia Park nach South Boston zu fahren. Eine unüberdachte Tribüne aus Granit in Hufeisenform umgab die staubige Kampfbahn an dem einen Ende des Parks. Wir hatten vorher einen Six-Pack gekauft, den wir neben uns abstellten, nachdem wir ein paar Splitter von der hölzernen Sitzbank gewischt hatten.
Columbia Park ist Angies ganz besonderer Ort. Vor mehr als zwanzig Jahren verschwand ihr Vater Jimmy bei einem Mafiacoup, und ihre Mutter wählte den Park, um Angie und ihrer Schwester beizubringen, daß der Vater tot sei, auch wenn es keine Leiche gab. In mancher hoffnungslosen Nacht, wenn sie nicht schlafen konnte, wenn ihr schwarze Gedanken durch den Kopf geisterten, ging Angie in den Park.
Der Ozean war nur fünfzig Meter von uns entfernt, und die Brise vom Meer war kalt genug, daß wir uns aneinander schmiegen mußten, um nicht zu frieren.
Sie beugte sich vor, starrte auf die Laufbahn und den weitläufigen grünen Park dahinter. »Weißt du was?«
»Nein.«
»Ich verstehe Leute nicht, die anderen Menschen absichtlich weh tun.« Sie drehte sich zu mir um und sah mich an. »Damit meine ich nicht Leute, die mit Gewalt auf Gewalt reagieren. In der Hinsicht sind wir selbst nicht besser als alle anderen. Ich meine Menschen, die anderen ohne jeden Grund weh tun. Denen das Spaß macht. Die es toll finden, andere mit sich in den Dreck zu ziehen.«
»Die Männer in der Kneipe.«
»Zum Beispiel. Die hätten mich vergewaltigt, Patrick. Mich - vergewaltigt.« Einen Augenblick lang blieb ihr Mund offenstehen, so als verstände sie erst jetzt so richtig, was das bedeutete. »Und dann wären sie nach Hause gegangen und hätten gefeiert. Nee, stimmt gar nicht.« Sie hob den Arm vors Gesicht. »Nein, hätten sie nicht. Sie hätten gar nicht gefeiert. Das war noch nicht mal das Schlimmste gewesen. Das Schlimmste ist, daß sie überhaupt nicht groß darüber nachgedacht hätten. Sie hätten mir den Körper aufgerissen, hätten mich auf jede kranke Art geschändet, zu der ihr verkümmertes Hirn fähig ist, und wenn sie damit fertig gewesen wären, hätten sie sich daran erinnert wie an eine Tasse Kaffee. Nichts zum Feiern, nur eine Sache, die einem den Tag nicht so lang vorkommen läßt.«
Ich sagte nichts. Es gab nichts zu sagen. Ich sah ihr in die Augen und wartete, daß sie weitersprach.
»Und Helene«, fuhr sie fort, »ist fast genauso schlimm wie diese Typen, Patrick.«
»Bei allem Respekt, aber jetzt übertreibst du, Angie.«
Sie schüttelte mit weit aufgerissenen Augen den Kopf.
»Nein, tue ich nicht. Vergewaltigung ist eine unmittelbare Gewalttat. In der kurzen Zeit, die so ein Arschloch braucht, um seinen Schwanz in dich zu schieben, brennt er dich von innen aus und macht ein Nichts aus dir. Aber was Helene mit ihrem Kind macht…« Sie blickte kurz auf die Laufbahn vor uns und trank einen Schluck Bier. »Du hast gehört, was die anderen Mütter erzählt haben. Du hast gesehen, wie sie mit dem Verschwinden ihrer kleinen Tochter umgeht. Ich bin mir sicher, daß sie Amanda Tag für Tag kaputtmacht, nicht durch Vergewaltigung oder Gewalt, sondern durch Teilnahmslosigkeit. Sie hat das Kind von innen ganz
Weitere Kostenlose Bücher