Kein Kinderspiel
bloß so schmutzige Hände von der Druckerschwärze, daß ich vor dem Zubettgehen noch eine kleine Collage von Fingerabdrücken auf einem Blatt Papier anfertigte. Wenn ein Fall seine Geheimnisse so hartnäckig verbirgt, hilft manchmal nichts anderes, als einen ganz neuen Ansatz auszuprobieren - wenigstens hielten wir ihn für innovativ. Wir wollten uns die Bänder ansehen, weil wir hofften, daß uns etwas auffallen würde.
Ich holte acht VHS-Kassetten aus der FedEx-Schachtel und stapelte sie neben dem Fernseher im Wohnzimmer auf dem Boden. Dann frühstückten Angie und ich am Couchtisch, verglichen unsere Aufzeichnungen und versuchten, uns einen Schlachtplan für den Tag zurechtzulegen. Abgesehen davon, Skinny Ray Likanski zu suchen und Helene, Beatrice und Lionel McCready noch einmal in der verzweifelten Hoffnung zu befragen, ihnen könnte etwas Entscheidendes über besagte Nacht eingefallen sein, das sie bisher vergessen hatten, hatten wir keine großartigen Einfälle.
Angie lehnte sich auf der Couch zurück, ich griff nach ihrem leeren Teller. »Manchmal«, begann sie, »manchmal gibt es so Momente, da denkt man, wieso habe ich eigentlicn nicht bei der Stadtverwaltung angefangen?« Sie sah zu mir auf, während ich ihren Teller auf meinen stellte. »Erstklassige Sozialleistungen.«
»Hervorragende Altersversorgung.« Ich brachte die Teller in die Küche und stellte sie auf die Spülmaschine.
»Geregelte Arbeitszeiten!« rief Angie aus dem Wohnzimmer herüber. Dann hörte ich ihr Feuerzeug klicken, mit dem sie sich die erste Zigarette des Tages anzündete. »Zahnarztbehandlung vom Feinsten!«
Ich machte uns eine Tasse Kaffee und ging zurück ins Wohnzimmer. Angies dichtes Haar war noch immer feucht vom Duschen, und in Jogginghose und T-Shirt, die sie morgens immer trug, sah sie kleiner und hilfsbedürftiger aus als sonst.
»Danke.« Ohne aufzusehen, nahm sie mir die Kaffeetasse aus der Hand und blätterte in ihren Aufzeichnungen herum.
»Die bringen dich noch mal um«, sagte ich.
Sie nahm die Zigarette aus dem Aschenbecher, den Blick noch immer auf die Blätter gerichtet. »Ich rauche, seit ich sechzehn Jahre alt bin.«
»Ganz schön lange.«
Sie blätterte wieder um. »Und die ganze Zeit hast du kein Wort dazu gesagt.«
»Ist ja dein Körper«, lenkte ich ein.
Sie nickte. »Aber weil wir jetzt miteinander schlafen, gehört er auch irgendwie dir, ja?«
In den letzten sechs Monaten hatte ich mich an ihre morgendlichen Launen gewöhnt. Oft war sie ungewöhnlich energiegeladen, hatte bereits Aerobic oder einen Spaziergang auf Castle Island gemacht, bevor ich überhaupt aufwachte. Aber selbst dann war sie morgens alles andere als eine Plaudertasche. Und wenn sie der Meinung war, in der Nacht zu viel von sich preisgegeben zu haben, verletzlich oder schwach gewesen zu sein (was in ihren Augen meistens das gleiche war), dann umgab sie ein feiner, kalter Hauch wie Bodennebel in der Dämmerung. Sie war zwar da, das sah ich ja, aber sobald ich die Augen nur eine Sekunde lang von ihr abwandte, war sie fort, war verschwunden hinter weißen Nebelschwaden und würde eine Zeitlang nicht wieder hervorkommen.
»Nerve ich?« fragte ich.
Sie sah zu mir auf und lächelte kühl. » Kann man so sagen.« Sie nippte an ihrem Kaffee und blickte wieder auf ihre Zettel. »Hier ist nichts zu finden.«
»Geduld.« Ich stellte den Fernseher an und schob die erste Kassette in den Videorekorder.
Das Startband zählte von sieben rückwärts, die schwarzen Zahlen verschwammen ein wenig vor dem blauen Hintergrund. Dann wurde das Datum von Amandas Verschwinden eingeblendet, und plötzlich saßen wir im Studio bei Gordon Taylor und Tanya Biloskirka, den außergewöhnlichen Nachrichtensprechern von Channel Five. Gordon sah immer aus, als habe er Mühe, seine dunklen Haare aus der Stirn zu streichen - in Zeiten gefriergetrockneter Anchormen sicher eine Seltenheit. Doch als Ausgleich für sein unbändiges Haar besaß er einen stechenden, selbstgerechten Blick, und seine Stimme bebte ständig vor Empörung, selbst wenn er über die Eröffnung des Weihnachtsmarktes oder einen Auftritt von Mickymaus berichtete. Tanya mit dem unaussprechlichen Nachnamen trug eine Brille, um sich einen Anstrich von Intellektualität zu geben, doch alle mir bekannten Männer dachten trotzdem, daß sie ein echter Feger war, und das war wahrscheinlich auch beabsichtigt.
Gordon zog seine Manschetten zurecht, und Tanya machte diese berühmte Bewegung, auf dem
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