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Kein Kinderspiel

Kein Kinderspiel

Titel: Kein Kinderspiel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dennis Lehane
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Stuhl herumzurücken und gleichzeitig ein paar Blätter aufzunehmen und ihre Kanten gerade auszurichten. Sie bereitete sich auf ihren Text im Teleprompter vor. Die Worte »KIND VERMISST« wurden in dem Kasten zwischen ihren Köpfen eingeblendet.
    »In Dorchester ist ein Kind verschwunden«, verkündete Gordon ernst. »Tanya?«
    » Danke, Gordon.« Die Kamera zeigte ihr Gesicht in Großaufnahme. »Das Verschwinden eines vierjährigen Mädchens in Dorchester stellt die Polizei vor ein Rätsel und beunruhigt die Nachbarn. Es geschah vor nur wenigen Stunden. Die kleine Amanda McCready verschwand aus ihrer Wohnung in der Sagamore Street, ohne, wie die Polizei sagt,« - sie beugte sich einen Millimeter vor und senkte die Stimme um eine Oktave - »eine Spur zu hinterlassen.«
    Sie blendeten zurück zu Gordon, der nicht damit gerechnet hatte. Seine Hand schwebte auf halbem Weg zur Stirn, zwischen seinen Fingern lugte eine Locke seines widerspenstigen Haars hervor. »Mehr über diese furchtbare Geschichte jetzt live von Gerti Broderick. Gerti?«
    Die Straße war voll von Nachbarn und Neugierigen. Gerti Broderick stand mit dem Mikrophon in der Hand da und wiederholte, was Gordon und Tanya uns gerade erzählt hatten. Ungefähr sechs Meter hinter ihr, jenseits eines gelben Absperrungsbandes und uniformierten Polizeibeamten, war eine hysterische Helene auf ihrer Veranda zu sehen, die von Lionel festgehalten wurde. Sie schrie irgendwas, das bei dem Lärm der Zuschauer, dem Summen der Stromgeneratoren und Gertis Atemlosigkeit schwer zu verstehen war.
    »… und mehr scheint die Polizei bisher nicht zu wissen. Sehr wenig.« Gerti starrte in die Kamera und versuchte, nicht zu blinzeln.
    Gordon Taylor unterbrach die Livereportage: »Gerti!«
    Gerti hielt sich die Hand ans linke Ohr. »Ja, Gordon. Gordon?«
    »Gerti.«
    »Ja, Gordon. Ich höre.«
    »Ist das die Mutter des kleinen Mädchens dort auf der Veranda hinter dir?«
    Die Kamera zoomte auf die Veranda, wurde schärfer und hielt auf die Gesichter von Helene und Lionel. Helene hatte den Mund geöffnet, Tränen liefen ihr die Wangen hinunter, und der Kopf fiel ihr ständig auf die Brust, so als hätten ihre Nackenmuskeln wie bei einem Neugeborenen nicht die Kraft, ihn aufrecht zu halten.
    Gerti erklärte: »Wir nehmen an, daß das Amandas Mutter ist. Bisher wurde das aber noch nicht von offizieller Seite bestätigt.«
    Helene hämmerte Lionel mit den Fäusten auf die Brust, die Augen weit aufgerissen. Dann begann sie zu heulen. Ihre linke Hand schoß über Lionels Schulter und zeigte auf etwas hinter der Kamera. Wir wurden Zeugen eines Live-Zusammenbruchs dort auf der Veranda, eine tiefe Verletzung der Intimsphäre eines trauernden Menschen.
    »Sie wirkt aufgebracht«, urteilte Gordon. Dieser Gordon, dem entging wirklich nichts.
    »Ja«, bestätigte Tanya.
    »Da der Zeitfaktor hier von größter Bedeutung ist«, fuhr Gerti fort, »bittet die Polizei um jede Information. Jeder, der die kleine Amanda gesehen hat…«
    »Die kleine Amanda?« rief Angie und schüttelte den Kopf. »Was soll sie mit vier Jahren denn sonst sein? Die riesige Amanda? Die erwachsene Amanda?«
    »… jeder, der auch nur die kleinste Information über dieses kleine Mädchen hat …«
    Ein Foto von Amanda füllte den Bildschirm aus.
    »… möge sich bitte an die unten angegebene Telefonnummer wenden.«
    Die Nummer der Ermittlungsgruppe Kind wurde kurz unter Amandas Bild eingeblendet, dann wurde zurück ins Studio geschaltet. In dem Kästchen zwischen den beiden Ansagern stand nun nicht mehr »KIND VERMISST«. Jetzt wurde darin die Liveübertragung mit Gerti Broderick gezeigt, die in der Ferne weiterhin ihr Mikro liebkoste und mit nichtssagendem, leicht verwirrtem Bück in die Kamera schaute, während Helene auf der Veranda noch immer beängstigend schrie und strampelte und Beatrice zu Lionel geeilt war, um ihm bei seiner schwierigen Aufgabe beizustehen.
    »Gerti«, fragte Tanya, »hast du schon ein Wort mit der Mutter wechseln können?«
    Gerti verzog das Gesicht zu einem verkniffenen Lächeln, obwohl es in ihren verdutzten Augen verärgert aufblitzte. »Nein, Tanya. Bisher hält uns die Polizei mit dem gelben Absperrungsband, das hinter mir zu sehen ist, zurück, so daß wir, wie gesagt, noch eine Bestätigung brauchen, daß die hysterische Frau hinter mir auf der Veranda tatsächlich Helene McCready ist.«
    »Tragisch«, bemerkte Gordon, und hinter ihm warf sich Helene wieder auf Lionel und heulte so

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