Kein Kinderspiel
die Augen zusammen. »Was zum Teufel hast du hier zu suchen, wenn du nicht mal weißt, wo du hinwillst?« mag die höfliche Antwort lauten, eventuell gefolgt von einem ausgestreckten Mittelfinger (aber nur wenn man ihm wirklich sympathisch ist).
Charlestown ist also eine Stadt, in der man sich schnell verirrt. Schilder mit Straßennamen verschwinden alle naselang, und die Häuser stehen oft so eng beieinander, daß der schmale Weg dazwischen, der zu weiteren Häusern führt, nicht zu erkennen ist. Die Straßen, die auf den Hügel hinaufführen, enden meistens in einer Sackgasse oder leiten den Fahrer von seinem Ziel fort in die entgegengesetzte Richtung.
Auch weisen die Stadtteile von Charlestown erstaunliche Unterschiede auf. Je nachdem, in welche Richtung man fährt, können direkt auf die Sozialbausiedlung Mishawum die feinen Stadthäuser aus braunem Sandstein folgen, die in Hufeisenform um den Edwards Park gruppiert sind. Andere Straßen, die an herrschaftlichen Kolonialhäusern aus rotem Ziegelstein mit weißen Schmuckelementen am Monument Square vorbeiführen, versanden ohne Vorwarnung im Dunkelgrau der Sozialbausiedlung Bunker Hill, eine der am stärksten verarmten weißen Wohnsiedlungen diesseits von West Virginia.
Doch finden sich hier und dort vereinzelte Spuren von historischem Bewußtsein - Backstein und Mörtel, Holzverschalungen aus der Kolonialzeit, Kopfsteinpflaster, Gasthäuser aus vorrevolutionärer Zeit, Seemannsquartiere vom Anfang des Jahrhunderts -, die in ganz Amerika ihresgleichen suchen.
Nervt trotzdem, wenn man durchfahren muß.
Und genau das hatten wir in der letzten Stunde getan: Wir folgten Poole und Broussard, die mit Helene auf dem Rücksitz ihres Taurus kreuz und quer durch Charlestown kurvten.
Wir waren den gesamten Hügel abgefahren, hatten uns die Rückseiten von beiden Sozialsiedlungen angesehen, waren Stoßstange an Stoßstange über das Kopfsteinpflaster in der Yuppie-Enklave um das Bunker Hill Monument und hinunter bis zum Ende der Warren Street geschaukelt. Wir hatten den Docks einen Besuch abgestattet, waren an Old Ironsides vorbeigeglitten, an der Hafenzone mit den einst schmuddeligen Lagerhäusern und Schiffdocks, die nun zu kostspieligen Eigentumswohnungen umgebaut worden waren. Wir waren die kaputten Straßen entlanggehoppelt, die die ausgebrannten Überreste längst vergessener Fischereien am Ende jener Landzunge säumten, wo mehr als ein Mafioso seinen letzten Blick auf den im Mondlicht gebadeten Mystic River getan hatte, während eine Kugel das Geschütz verließ und in seinen Kopf einschlug.
Wir waren dem Taurus die Main Street und Rutherford Avenue entlang gefolgt, hatten ihn bergauf zur High Street, bergab zur Bunker Hill Avenue und noch hinter der Medford Street nicht aus den Augen gelassen, wir hatten jede winzige Straße dazwischen abgecheckt, hatten bei laufendem Motor in die schmalen Gassen gespäht, die wir immer erst in letzter Minute entdeckten. Auf der Suche nach einem aufgebockten Auto, zweihunderttausend Mäusen und Garfield.
»Früher oder später«, bemerkte Angie, »geht uns das Benzin aus.«
»Oder die Geduld«, fügte ich hinzu. Gerade zeigte Helene auf irgend etwas.
Ich trat auf die Bremse, und wieder hielt der Taurus vor uns an. Broussard stieg mit Helene aus, ging mit ihr zu einer Gasse hinüber und spähte hinein. Broussard fragte sie etwas, und Helene schüttelte den Kopf. Sie gingen zurück zum Auto, und ich nahm den Fuß von der Bremse.
»Warum suchen wir noch mal das Geld?« fragte Angie einige Minuten später, als wir den Hügel auf der anderen Seite wieder herunterfuhren. Die Motorhaube unseres Crown Victoria zeigte steil nach unten, die Bremsen schleiften, und ich konnte die Füße kaum auf den Pedalen halten.
Ich zuckte mit den Achseln. »Vielleicht weil das der erste Anhaltspunkt ist, den es seit langer Zeit gibt, oder weil Broussard und Poole die ganze Angelegenheit jetzt vielleicht für eine Entführung in der Drogenszene halten.«
»Und wo ist dann die Lösegeldforderung? Wieso haben sich Chris Mullen oder Cheese Olamon oder einer von seinen Leuten noch nicht bei Helene gemeldet?«
»Vielleicht warten sie, bis sie von selbst darauf kommt.«
»Da erwarten sie aber ein bißchen viel von jemandem wie Helene.«
»Chris und Cheese sind ja auch nicht gerade Atomwissenschaftler. «
»Stimmt, aber…«
Wieder hielten wir an, und diesmal war Helene noch vor Broussard aus dem Auto. Wild gestikulierend, zeigte sie auf einen
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