Kein Kinderspiel
Kenzie hat recht. Wenn Sie in Charlestown waren, könnten Sie sich an das Denkmal erinnern, oder?«
Wieder dauerte es eine Weile, in der Helene das ihr verbliebene Stück Hirn quälte. Ich fragte mich, ob ich ihr noch ein Bier holen sollte. Vielleicht würde das die Sache beschleunigen.
»Ja«, sagte sie schließlich ganz langsam. »Auf dem Rückweg sind wir über den großen Hügel mit dem Denkmal gefahren.«
»Also war das Haus im Osten der Stadt«, folgerte Broussard.
»Im Osten?« wiederholte Helene.
»Sie waren näher an der Siedlung Bunker Hill, an Medford Street und Bunker Hill Avenue als an der Main Street oder Warren Street.« »Wenn Sie das sagen.«
Broussard neigte den Kopf und fuhr sich mit dem Handrücken langsam über die Bartstoppeln auf seiner Wange. Einige Male atmete er flach ein und aus.
»Miss McCready«, sagte Poole, »abgesehen von der Tatsache, daß sich das Haus am Ende einer Gasse befand, können Sie sich noch an etwas anderes erinnern? Hatte es ein oder zwei Wohnungen?« »Es war superklein.«
»Das heißt bei uns Einfamilienhaus.« Poole kritzelte in sein Notizbuch. »Farbe?« »Sie waren weiß.« »Wer?«
»Die Freunde von Ray. Eine Frau und ein Typ. Beide weiß.«
»Hervorragend!« lobte Poole. »Aber das Haus, welche Farbe hatte das?« Sie zuckte mit den Achseln. »Weiß nicht mehr.« »Los, wir gehen Likanski suchen«, schlug Broussard vor.
»Wir können ja in Pennsylvania anfangen. Scheißegal – ich fahre!«
Poole hob die Hand. »Einen kleinen Moment noch, Detective. Miss McCready, bitte denken Sie gründlich nach! Rufen Sie sich diese Nacht ins Gedächtnis! Die Gerüche. Die Musik, die bei Ray Likanski im Auto lief. So daß Sie sich wieder in die Situation im Auto hineinversetzen können. Sie fuhren von Nashua nach Charlestown. Dafür braucht man ungefähr eine Stunde, vielleicht ein bißchen weniger. Sie waren stoned. Sie hielten in dieser Gasse an, und dann…«
»Haben wir nicht.«
»Was?«
»Wir sind nicht in die Gasse gefahren. Wir haben an der Straße geparkt, weil da so’n altes kaputtes Auto in der Sackgasse stand. Wir sind ewig lang rumgekurvt, bis wir einen Parkplatz fanden. Scheiße zu parken da.«
Poole nickte. »Dieses kaputte Auto in der Sackgasse, können Sie sich an irgend etwas erinnern?«
Sie schüttelte den Kopf. »Das war nur ein Haufen Rost, es war aufgebockt. Keine Reifen, nichts.«
»Deshalb war es aufgebockt«, erklärte Poole. »Sonst nichts?«
Helene wollte gerade wieder den Kopf schütteln, hielt dann jedoch inne und kicherte.
»Möchten Sie den Grund Ihrer Erheiterung mit dem Rest der Klasse teilen?« fragte Poole.
Sie sah ihn noch immer lächelnd an. »Was?«
»Warum lachen Sie, Miss McCready?«
»Garfield.«
»James A. Garfield ? Der zwanzigste Präsident der USA?«
»Hä?« Helenes Augäpfel traten hervor. »Nein. Der Kater.«
Wir starrten sie alle an.
»Der fette Kater! Aus dem Comic.«
»Ach so«, sagte ich.
»Wißt ihr noch, als alle solche Garfields an den hinteren Scheiben kleben hatten? Und in diesem Auto war auch so einer. Deshalb kam ich auf die Idee, daß es schon seit Ewigkeiten da stand. Ich meine, wer hat denn heute noch so einen Garfield im Fenster kleben.«
»Genau«, sagte Poole. »Ganz genau.«
10
Als Winthrop mit den ersten Siedlern die Neue Welt erreichte, ließen sie sich auf einem größtenteils hügeligen Stück Land von einer Quadratmeile Ausdehnung nieder und benannten es nach der Stadt, die sie in England hinter sich gelassen hatten, Boston. Während des grausamen Winters, den Winthrops Pilger dort verbrachten, merkten sie, daß das Wasser unbeschreiblich brackig war. Deshalb überquerten sie den Fluß und übertrugen den Namen Boston auf das andere Ufer, wodurch die Gegend, die später einmal Charlestown genannt werden sollte, fürs erste wieder namenlos und unbewohnt war.
Seither hat sich Charlestown den Charakter eines Vorpostens bewahrt. Diese ursprünglich irische Siedlung, seit Generationen Heimat von Fischern, Seefahrern und Dockarbeitern, ist berüchtigt für das dort herrschende Gesetz des Schweigens. Dieser Unwille, mit der Polizei zu sprechen, hat der Stadt die höchste Rate ungelöster Mordfälle im gesamten Land beschert, obwohl die Mordrate an sich gar nicht so hoch ist. Die Angewohnheit, den Mund zu halten, kommt sogar zum Tragen, wenn lediglich nach dem Weg gefragt wird. Fragt man einen Bewohner von Charlestown, einen Townie, wie man zu dieser oder jener Straße komme, kneift er
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