Kein Kinderspiel
ab. Ich warf Angie einen bösen Blick zu und versuchte es erneut. Wieder landete ich auf dem Po.
»Jetzt wird die Veranlagung langsam nervös«, meldete Angie.
Beim dritten Versuch konnte ich die Finger tatsächlich gute fünfzehn Sekunden in dem Schlitz halten, bevor ich den Halt verlor.
Angie leuchtete mir ins Gesicht, während ich zu der verfluchten sturen Wand aus Granit emporsah.
»Darf ich mal?« fragte sie.
Ich nahm ihr die Lampen ab und beleuchtete das Gestein. »Bitte sehr.«
Sie trat ein paar Schritte zurück und beäugte die Granitwand. Dann ging sie in die Hocke und wippte mehrmals, streckte den Oberkörper aus und dehnte die Finger. Bevor ich ahnte, was sie vorhatte, erhob sie sich und lief mit voller Geschwindigkeit auf die Wand zu. Ein paar Zentimeter, bevor sie wie Tom oder Jerry dagegengeprallt wäre, grub sie den Fuß in den unteren Schlitz und griff mit der rechten Hand in den oberen. Als sie mit dem linken Arm über die Kante faßte, konnte sie ihren leichten Körper noch einen weiteren halben Meter nach oben hieven.
Dann hing sie gut dreißig Sekunden lang an der Wand, eng gegen den Stein gedrückt, als habe sie jemand dort hingeklatscht.
»Und was hast du jetzt vor?« fragte ich.
»Ich dachte, ich bleib’ mal ‘ne Weile hier hängen.«
»Klingt etwas ironisch.«
»Ach, jetzt erkennst du plötzlich Ironie?«
»Das ist eine von meinen Stärken.«
» Patrick!« erklang ihre Stimme von oben in einem Ton, der mich an meine Mutter und verschiedene Nonnen erinnerte, »stell dich unter mich und schieb mich hoch.«
Ich klemmte mir eine Taschenlampe hinter den Gürtel, so daß mir das Licht ins Gesicht schien. Die andere steckte ich in die Gesäßtasche. Dann stellte ich mich unter Angie und drückte mit beiden Händen gegen ihre Schuhe. Die beiden Taschenlampen waren wahrscheinlich schwerer als sie. Sie stieg an der Wand hoch, und ich streckte die Arme aus, bis es nicht mehr ging. Oben angekommen, drehte sie sich um und sah auf Händen und Knien zu mir herunter. Sie streckte mir die Hand entgegen. »Bist du soweit, mein Zehnkämpfer?« Ich hustete in die Faust. »Blöde Kuh!« Sie zog die Hand zurück und grinste. »Was hast du gerade gesagt?«
»Ich hab gesagt, ich schaff das nie so schön wie du.« »Aha.« Sie hielt mir wieder die Hand hin. »Ja, klar.« Nachdem sie mich hochgezogen hatte, ließen wir die Lichtkegel über das Gestein schweifen. Im Umkreis von mindestens zwanzig Metern fand sich nicht die geringste Unebenheit. Der Stein war so glatt wie eine Bowlingkugel. Ich legte mich auf den Bauch und schob den Kopf und die Taschenlampe über den Abhang. Unter mir fiel die Klippe jäh über zwanzig Meter ab.
Wir befanden uns ungefähr auf der Hälfte der Strecke zur Nordseite des Steinbruchs. Direkt gegenüber, auf der anderen Seite des Sees, erhob sich eine Reihe von Klippen und Felsvorsprüngen, übersät mit Graffiti und sogar einigen vereinzelten Kletterhaken. Das Wasser schimmerte im Schein meiner Lampe vor den steinigen Klippen wie Asphalt in der Sommerhitze. Ich konnte mich an das blasse Grün erinnern, damals etwas milchiger, doch wußte ich, daß diese Farbe trog. Als Taucher im letzten Sommer nach einer Leiche suchten, mußten sie die Suche schließlich ergebnislos abbrechen, da die hohe Konzentration von Schlickablagerungen zusammen mit der von Natur aus schlechten Sicht in Tiefen über fünfzig Metern es unmöglich machte, mehr als einen Meter weit zu sehen. Mit der Lampe suchte ich das Wasser ab. Der Lichtstrahl hüpfte über ein zerbeultes Nummernschild, das im grünen Wasser trieb, über einen Holzstamm, der in der Mitte von Tieren angenagt worden war, so daß er nun wie ein Kanu aussah, und dann kurz über ein rundes, fleischfarbenes Etwas.
»Patrick!« rief Angie.»Warte kurz. Leuchte noch mal da unten hin.
Ich schwenkte den Strahl wieder nach rechts, wo ich den runden Gegenstand gesehen hatte, doch erblickte ich nichts als grünes Wasser.
» Ange«, mahnte ich, »los, beeil dich.«
Sie legte sich neben mich auf den Felsblock und hielt ihre Lampe in die gleiche Richtung wie ich. Unten auf dem See, in mehr als zwanzig Metern Entfernung, war das Licht nicht mehr so stark. Die hellgrüne Farbe des Wassers erschwerte das Sehen noch zusätzlich. Unsere Lichtkegel bewegten sich wie ein Augenpaar hin und her, kreuz und quer über die Wasseroberfläche.
»Was hast du gesehen?«
»Weiß ich nicht. Kann auch nur ein Stein gewesen sein…«
Der kaffeebraune Baumstamm
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