Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Kein Kinderspiel

Kein Kinderspiel

Titel: Kein Kinderspiel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dennis Lehane
Vom Netzwerk:
ab!«
    »Ich…«
    »Und wag es nicht, auf mich Rücksicht zu nehmen, Kleiner! Wage es nicht! Nimm die Tasche!«
    Broussard senkte das Kinn auf die Brust. Er zog die Tasche unter Poole hervor und schlug den Dreck vom Boden ab. »Los!« befahl Poole uns. »Geht los!« Broussard entwand seine Hand Pooles Griff und erhob sich. Er blickte in den dunklen Wald wie ein kleines Kind, das gerade begriffen hatte, was es hieß, allein zu sein.
    Poole sah Angie und mich an und lächelte. »Ich schaff das schon. Rettet das Mädchen und ruft dann jemanden dazu.«
    Ich wich seinem Blick aus. Soweit ich das beurteilen konnte, hatte Poole gerade entweder einen kleinen Herzinfarkt oder einen Schlaganfall erlitten. Und das Blut aus seinen Lungen gab nicht gerade Anlaß zu Optimismus. Ich sah auf einen Mann hinunter, der sterben würde, wenn er nicht auf der Stelle Hilfe bekam. Angie sagte: »Ich bleibe hier.«
    Wir sahen sie alle an. Sie hockte noch immer neben Poole auf den Knien und fuhr ihm mit der Hand über seine bleiche Stirn, über sein stoppeliges Haar.
    »Ganz bestimmt nicht«, gab er zurück und schlug nach ihrer Hand. Er neigte den Kopf zur Seite und sah ihr ins Gesicht. »Dieses Kind wird heute abend sterben, Miss Gennaro.«
    »Angie.«
    »Dieses Kind wird heute abend sterben, Angie.« Er knirschte einen Moment mit den Zähnen und verzog das Gesicht, als ihm etwas die Speiseröhre hochschoß. Er mußte ein paarmal schlucken, um es zurückzudrängen. »Wenn wir nichts tun. Wir brauchen jeden einzelnen, den wir haben, um sie dort unversehrt herauszuholen.« Er zog sich ein Stück an der Kletterpflanze hoch. »Und jetzt gehen Sie da hoch zu den Seen. Und Sie auch, Patrick.« Er wandte sich Broussard zu. »Und du auch, verflucht noch mal. Los jetzt! Haut ab.«
    Keiner von uns wollte gehen. Das war klar. Aber dann streckte Poole den Arm aus und drehte uns das Handgelenk zu, so daß wir alle die beleuchteten Zeiger seiner Armbanduhr erkennen konnten: drei Minuten nach acht.
    Wir hatten Verspätung.
    »Los!« zischte er.
    Ich blickte zum Hügelkamm hinauf, dann in den dunklen Wald hinter Poole, schließlich auf den kranken Mann selbst. Wie er da lag, die Beine gespreizt, ein Fuß zur Seite, sah er wie eine umgekippte Vogelscheuche aus.
    »Los!« wiederholte er.
    Wir ließen ihn allein.
    Broussard führte uns den Hügel hinauf, während der Pfad durch Dickicht, Sträucher und Gestrüpp immer enger wurde. Von unseren Geräuschen abgesehen, war die Nacht so still, daß es leicht gewesen wäre zu glauben, wir seien die einzigen Wesen in der Dunkelheit.
    Drei Meter vom Hügelkamm entfernt stießen wir auf einen ein Meter zwanzig hohen Zaun, doch merkten wir schnell, daß er kein unüberwindliches Hindernis darstellte. Ein Abschnitt von der Breite eines Garagentors war herausgeschnitten worden, so daß wir, ohne anzuhalten, durch das Loch treten konnten.
    Auf dem Kamm des Hügels angelangt, blieb Broussard kurz stehen, um sein Walkie-talkie einzuschalten und leise hereinzusprechen. »Haben den See erreicht. Sergeant Raftopoulos ist krank. Schicken Sie auf mein Signal hin - ich wiederhole: auf mein Signal - jemand zum Abtransport die Eisenbahnschienen hoch. Er liegt fünfzehn Meter vom Kamm entfernt. Warten Sie auf mein Signal. Bitte kommen.«
    »Verstanden.«
    »Out.« Broussard steckte das Funkgerät zurück in den Regenmantel. »Was nun?« fragte Angie.
    Wir standen auf einer Klippe ungefähr zehn Meter über dem Wasser. In der Dunkelheit konnte ich die Umrisse von anderen Klippen, Felsenspitzen, krummen Bäumen und Vorsprüngen im Gestein ausmachen. Links neben uns erhob sich zersprengter, zerklüfteter Granit, einige der schartigen Spitzen ragten drei bis fünf Meter hoch in die Luft. Rechts von uns dehnte sich der Boden ungefähr sechzig Meter weit glatt aus, dahinter wurde er wieder hügelig und unregelmäßig. Unter uns wartete das Wasser, ein großer, hellgrauer Kreis vor einer schwarzen Klippenwand.
    »Die Frau, die Lionel angerufen hat, sagte, wir sollten auf weitere Anweisungen warten«, sagte Broussard. »Könnt ihr was sehen?«
    Angie leuchtete mit der Lampe auf den Boden, gegen die Granitwände und hoch in die Bäume und ins Gebüsch. Das tanzende Licht glich einem trägen Auge, das uns bruchstückhaft Einblick in eine fremde Welt gewährte, die sich immer wieder dramatisch veränderte: Gestein, daneben Moos, verwitterte weiße Baumrinde und tiefgrüne Vegetation. Und zwischen den Bäumen schimmerten die silbernen

Weitere Kostenlose Bücher