Kein Kinderspiel
Abschnitte des Maschendrahtzauns hindurch. »Ich sehe keine Anweisungen«, bekannte Angie. Ich wußte, daß Bubba irgendwo in der Nähe war. Wahrscheinlich konnte er uns sogar sehen. Vielleicht sah er sogar Mullen und Gutierrez und ihre mutmaßlichen Komplizen. Vielleicht sah er sogar Amanda McCready. Er hatte sich von Milton durch den Cunningham Park herangeschlichen, hatte einen Weg benutzt, den er vor Jahren ausfindig gemacht hatte, als er heiße Ware, Waffen, Autos oder Leichen verschwinden lassen mußte. Was Leute wie Bubba halt in Steinbrüchen verschwinden ließen.
Er hatte sein Gewehr sicherlich mit einem Zielfernrohr mit Nachtsichtvorrichtung ausgestattet, durch das er uns beobachten konnte. In seinen Augen mußte es aussehen, als stünden wir in einer trüben Unterwasserwelt oder bewegten uns auf einem Foto, das sich noch entwickelte.
Das Walkie-talkie von Broussard begann zu piepsen. In der Stille klang das Geräusch wie ein Schrei. Er drückte auf ein paar Tasten und hielt ihn an die Lippen.
»Broussard hier.«
»Hier ist Doyle. Das 16. Revier hat gerade einen Anruf von einer Frau erhalten, die eine Botschaft für euch hat. Ist scheinbar die Frau, die auch bei Lionel McCready angerufen hat.«
»Verstanden. Wie lautet die Nachricht?«
»Sie gehen nach rechts, Detective Broussard, auf die südlichen Klippen. Kenzie und Gennaro sollen nach links gehen.«
»Das ist alles?«
»Ja. Over.«
Broussard steckte das Funkgerät wieder fort und sah zu den Klippen auf der anderen Seite des Sees hinüber. »Ausschwärmen und Stellung einnehmen.«
Er sah uns an, seine Augen waren klein und leer. Er wirkte viel jünger als sonst. Die Nervosität und die Angst gaben seinem Gesicht zehn Jahre zurück.
»Vorsichtig, ja?« sagte Angie.
»Ihr auch«, gab er zurück.
Wir standen noch ein paar Sekunden lang da, als könnten wir, indem wir uns nicht bewegten, das Unvermeidliche abwenden: den Moment, in dem wir sahen, ob Amanda McCready tot oder lebendig war, den Moment, in dem das Hoffen und Planen unseren Händen entrissen wurde und wir nicht mehr bestimmen konnten, wer verletzt, vermißt oder getötet wurde.
»Tja«, sagte Broussard. »Scheiße.« Er zuckte mit den Schultern und ging dann über den Fußweg davon. Das Licht der Taschenlampe hüpfte vor ihm durch den Staub.
Angie und ich entfernten uns ungefähr drei Meter vom Abhang und gingen weiter, bis sich ein Spalt vor uns auftat, hinter dem sich eine etwa fünfzehn Zentimeter hohe Granitplatte erhob. Ich ergriff Angies Hand, und zusammen schritten wir über den Spalt auf den nächsten Vorsprung, der nach ungefähr zehn Metern vor einer Wand endete.
Sie war gute dreieinhalb Meter hoch. Das Cremeweiß war mit schokoladenbraunen Einschlüssen durchsetzt. Die Wand erinnerte mich an einen Marmorkuchen. Ein Marmorkuchen mit sechs Tonnen Gesamtgewicht, aber immerhin.
Wir blinkten mit den Taschenlampen nach links, sahen aber nur, daß sich die Wand noch mindestens zehn Meter weiter in den Wald erstreckte. Ich richtete den Lichtkegel wieder auf den Abschnitt direkt vor uns und entdeckte einige Unebenheiten im Stein, als wären wie beim Schiefer ganze Platten abgeplatzt. Auf einer Höhe von 75 Zentimetern klaffte ein kleiner Einschnitt von ungefähr dreißig Zentimetern Breite wie ein lachender Mund. Ein Meter zwanzig weiter oben entdeckte ich eine noch breiter lachende Spalte.
»Bist du in letzter Zeit mal geklettert?« fragte ich Angie.
»Du meinst doch nicht…?« Sie ließ ihren Lichtkegel über die Wand tanzen.
»Ich weiß keine andere Lösung.« Ich reichte ihr meine Taschenlampe und hob den Fuß, bis ich mit der Schuhspitze im ersten kleinen Einschnitt Halt fand. Über die Schulter sah ich mich nach Angie um. »Wenn ich du wäre, würde ich besser nicht direkt hinter mir stehen. Vielleicht bin ich ganz schnell wieder unten.«
Sie schüttelte den Kopf und trat einen Schritt nach links. Mit beiden Lampen beleuchtete sie das Gestein, während ich die Schuhspitze in den Spalt drückte und sie ein wenig hin und her bewegte, um zu sehen, wie stabil der Stein war. Als nichts geschah, holte ich tief Luft, drückte mich ab und griff nach dem nächsthöheren Vorsprung. Meine Finger fanden Halt, doch dann rutschten sie an Staub und Steinsalz ab, und ich fiel auf den Hintern.
»Das war gut«, bemerkte Angie. »Du besitzt definitiv eine genetische Veranlagung zu sportlichen Aktivitäten.«
Ich rappelte mich hoch und wischte mir den Staub von den Händen an der Jeans
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