Kein Kuss unter dieser Nummer: Roman (German Edition)
wir momentan nicht tun. Gibt es irgendwelche Fragen? Nihal?«
»Wo ist Sir Nicholas jetzt?«, höre ich Nihals Stimme aus der Menge.
»Er hält sich in Berkshire auf. Noch ist unklar, in welcher Form wir diese Tagung weiterführen. Sobald Entscheidungen getroffen wurden, werden Sie selbstverständlich alle informiert.«
Ich sehe mich unter den Leuten um. Justin sitzt nur ein paar Schritte von mir entfernt, gibt sich erschrocken. Jetzt hebt er die Hand.
»Justin?«, sagt Vicks zögernd.
»Bravo, Vicks.« Seine weiche Stimme breitet sich im Raum aus. »Ich kann mir vorstellen, wie schwer diese letzten Stunden für Sie gewesen sein müssen. Als Mitglied der Geschäftsleitung möchte ich Ihnen für Ihre außerordentlichen Bemühungen danken. Was Sir Nicholas auch gesagt haben mag oder nicht – und das kann natürlich keiner von uns wirklich wissen –, Ihre Loyalität gegenüber der Firma wissen wir jedenfalls zu schätzen. Gut gemacht, Vicks!« Er stiftet den Saal zu einem Applaus an.
Ooh. Dieser Mistkerl. Offenbar bin ich nicht die Einzige, die so denkt, denn sogleich hebt sich die nächste Hand.
»Malcolm!«, sagt Vicks offensichtlich erleichtert.
»Ich möchte allen Mitarbeitern gegenüber deutlich machen, dass Sir Nicholas diese Bemerkungen nicht gemacht hat.« Leider klingt Malcolms Stimme etwas knurrig, und ich bin mir nicht sicher, ob alle ihn verstehen können. »Ich habe sein Originalmemo damals bekommen, und es war was völlig anderes …«
»Ich fürchte, ich muss Sie unterbrechen …«, geht Vicks dazwischen. »Die Nachrichten fangen an. Lauter, bitte!«
Wo ist Sam? Er sollte hier sein. Er sollte Justin Kontra geben und ihn auseinandernehmen. Er sollte sich die Nachrichten ansehen. Ich begreife es einfach nicht.
Die altbekannte Musik der ITN News at Ten beginnt, und das Intro mit dem Zoom auf den Big Ben füllt den ganzen Bildschirm aus. Ich bin richtig aufgewühlt, obwohl das Ganze gar nichts mit mir zu tun hat. Vielleicht bringen sie die Geschichte überhaupt nicht, denke ich immer wieder. Man hört oft genug, dass Probleme unter den Teppich gekehrt werden …
Big Bens Glocken schlagen schon. Jeden Moment werden sie die Schlagzeilen vorlesen. Mein Magen krampft sich zusammen, und ich nehme einen Schluck Wein. Man erlebt die Nachrichten völlig anders, wenn sie einen selbst betreffen. So müssen sich Premierminister ständig fühlen. O Gott, mit denen möchte ich nicht tauschen. Jeden Abend verstecken sie sich hinterm Sofa und spähen zwischen ihren Fingern hindurch.
Gong! »Neue Angriffe im Nahen Osten schüren Sorge um die Stabilität in der Region.« Gong! »Immobilienpreise erholen sich überraschend – aber ist es von Dauer?« Gong! »Ein durchgesickertes Memo weckt Zweifel an der Glaubwürdigkeit eines hohen Regierungsberaters.«
Da ist es. Sie bringen es.
Unheimliche Stille herrscht im Saal. Niemand hat aufgestöhnt oder sonst wie reagiert. Ich glaube, alle halten die Luft an und warten auf den Bericht. Der Film über den Nahen Osten hat begonnen, und man sieht Bilder von Schießereien in staubigen Straßen, aber ich kriege kaum was mit. Ich habe mein Handy gezückt und schreibe Sam.
Sehen Sie es sich an? Alle sind hier im Saal. P
Mein Handy bleibt still. Was macht er? Wieso ist er nicht hier bei den anderen?
Reglos starre ich den Bildschirm an, als eine Grafik der Immobilienpreise erscheint und eine Familie interviewt wird, die nach Thaxted ziehen möchte, wo immer das auch sein mag. Ich wünschte, die Moderatoren würden schneller sprechen, um endlich fertigzuwerden. Noch nie in meinem ganzen Leben haben mich die Immobilienpreise weniger interessiert. 85
Und dann plötzlich sind die beiden ersten Themen durch, und wir sind wieder im Studio, und die Ansagerin sagt mit feierlicher Miene: »Heute Abend wurden Zweifel an der Glaubwürdigkeit des offiziellen Regierungsberaters Sir Nicholas Murray laut. Murray ist Gründer und Hauptgeschäftsführer von White Globe Consulting. In einem vertraulichen Memo, das ITN exklusiv vorliegt, nimmt er Bezug auf korrupte Praktiken und Bestechlichkeit innerhalb der Firma und heißt diese gut.«
Jetzt wird einiges Stöhnen und Wispern im Saal laut. Ich sehe zu Vicks hinüber. Sie wirkt erstaunlich gefasst. Ich denke, sie wusste wohl, was kommt.
»In einer neuerlichen Wendung der Ereignisse jedoch wurden ITN kurz vor unserer Sendung Hinweise zugespielt, dass möglicherweise ein Mitarbeiter von White Globe Consulting selbst das Memo verfasst und
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