Kein Kuss unter dieser Nummer: Roman (German Edition)
Eltern sind beide tot. Autounfall. Vor zehn Jahren.« Ich lehne mich auf meinem Stuhl zurück und warte auf die betretene Pause.
Es kann auf verschiedenartigste Weise weitergehen. Schweigen. Hand vorm Mund. Stöhnen. 76 Aufschrei. Betretener Themenwechsel. Morbide Neugier. Die Geschichte eines größeren, schlimmeren Unfalls, den die Tante vom Freund eines Freundes hatte.
Ein Mädchen, dem ich davon erzählte, brach sofort in Tränen aus. Ich musste ihr beim Schluchzen zusehen und nach Taschentüchern suchen.
Aber … es ist merkwürdig. Diesmal scheint es kein betretener Moment zu werden. Sam hat sich nicht abgewandt. Er hat sich weder geräuspert, noch hat er leise gestöhnt oder das Thema gewechselt.
»Beide auf einmal?«, sagt er schließlich sanft.
»Meine Mutter sofort. Mein Vater am Tag danach.« Ich werfe ihm ein zerbrechliches Lachen zu. »Habe aber keinen Abschied mehr von ihm nehmen können. Er war schon nicht mehr bei sich zu diesem … zu diesem Zeitpunkt.«
Wie ich lernen musste, ist Lächeln tatsächlich die einzige Möglichkeit, diese Gespräche zu überstehen.
Ein Kellner kommt mit unserem Kaffee, und einen Moment lang stockt das Gespräch. Doch sobald er weg ist, kehrt dieselbe Stimmung zurück. Derselbe Ausdruck auf Sams Gesicht.
»Es tut mir sehr, sehr leid.«
»Das muss es nicht!«, sage ich fröhlich wie immer. »Es hat sich alles zum Guten gewendet. Wir sind zu meinem Onkel gezogen. Er ist Zahnarzt, und meine Tante ist Zahnarzthelferin. Sie haben sich um uns gekümmert, um mich und meine kleinen Brüder. Also … alles ist gut. Alles gut.«
Ich spüre seinen Blick. Ich sehe hierhin, dann dorthin, weiche ihm aus. Ich rühre meinen Cappuccino um, etwas zu schnell, und nehme einen Schluck.
»Das erklärt so manches«, sagt Sam schließlich.
Ich kann sein Mitgefühl nicht ertragen. Ich kann das Mitgefühl anderer nie ertragen.
»Tut es nicht«, sage ich schmallippig. »Tut es nicht. Es ist Jahre her, und ich bin erwachsen und habe es voll und ganz verarbeitet, okay? Sie irren sich also. Es erklärt überhaupt nichts.«
Sam stellt seine Espressotasse ab, nimmt seinen Amaretto-Keks und wickelt ihn in aller Ruhe aus.
»Ich meinte, es erklärt, warum Sie so von Zähnen besessen sind.«
»Oh.«
Touché.
Widerwillig lächle ich ihn an. »Ja, ich schätze, mit der Zahnpflege bin ich einigermaßen vertraut.«
Sam beißt knirschend in seinen Keks, und ich nehme noch einen Schluck Cappuccino. Ein bis zwei Minuten später scheint es, als hätte sich das Thema erledigt, und ich überlege schon, ob wir vielleicht mal zahlen sollten, als Sam plötzlich sagt: »Ein Freund von mir hat seine Mutter verloren, als wir auf dem College waren. Nächtelang habe ich mit ihm geredet. Viele Nächte.« Er macht eine Pause. »Ich weiß, wie es ist. Man kommt nicht so einfach darüber hinweg. Und da macht es keinen Unterschied, ob man angeblich ›erwachsen‹ geworden ist. Es geht nie weg.«
Er sollte nicht wieder von diesem Thema anfangen. Wir hatten es schon hinter uns. Die meisten Leute stürzen sich erleichtert gleich auf etwas anderes.
»Nun, ich bin darüber hinweg«, sage ich optimistisch. »Und es ging weg. So.«
Sam nickt, als würden ihn meine Worte nicht überraschen. »Ja, das hat er auch gesagt. Zu anderen Leuten. Ich weiß. Das muss man wohl.« Er macht eine Pause. »Ist allerdings nicht leicht, die Fassade aufrechtzuerhalten.«
Lächeln. Immer lächeln. Nur nicht in die Augen sehen.
Aber irgendwie kann ich nicht anders, und ich tue es doch.
Und plötzlich werden meine Augen ganz heiß. Verdammt. Verdammt. Das ist mir seit Jahren nicht passiert.
»Sehen Sie mich nicht so an«, knurre ich böse und starre wütend den Tisch an.
»Wie denn?« Sam klingt besorgt.
»Als würden Sie es verstehen.« Ich schlucke. »Lassen Sie das. Lassen Sie es einfach sein.«
Ich hole tief Luft und nehme einen Schluck Wasser. Poppy, du Idiot. Reiß dich zusammen. Ich habe nicht mehr so die Fassung verloren seit … ich weiß nicht mal mehr, seit wann.
»Tut mir leid«, sagt Sam mit leiser Stimme. »Ich wollte nicht …«
»Nein! Ist schon gut. Gehen wir einfach zum nächsten Thema über. Wollen wir die Rechnung bestellen?«
»Klar.« Er winkt einem Kellner. Ich nehme mein Lipgloss hervor, und nach etwa zwei Minuten fühle ich mich wieder ganz normal.
Ich versuche, die Rechnung zu übernehmen, aber Sam weigert sich rundweg, also schließen wir einen Kompromiss, und jeder bezahlt für sich. Nachdem der
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