Kein Lebenszeichen
Beispiel. Drei der letzten fünf Bürgermeister wurden wegen irgendwas verurteilt. In Atlantic City, ach, da können Sie doch nicht mal die Straße überqueren, ohne irgendwem Schmiergeld zu zahlen. Newark und der ganze Blödsinn mit der Wiederbelebung der Innenstädte. Wiederbelebung heißt Geld. Geld heißt Korruption und Bestechung.«
Ich rutschte auf meinem Stuhl herum. »Hat die Geschichte auch eine Pointe, Pistillo?«
»Ja, allerdings, Sie Arschloch.« Sein Gesicht rötete sich. Seine Miene blieb ungerührt, doch das kostete ihn offenbar einiges an Selbstbeherrschung. »Mein Schwager – der Vater dieser Jungs – wollte diese Drecksäcke von der Straße schaffen. Er hat undercover gearbeitet. Jemand hat das herausgefunden. Und am Ende waren er und sein Partner tot.«
»Und Sie meinen, mein Bruder hatte was damit zu tun?«
»Allerdings.«
»Können Sie das beweisen?«
»Mehr als das.« Pistillo lächelte. »Ihr Bruder hat gestanden.«
Ich zuckte zurück, als hätte er nach mir geschlagen. Ich schüttelte den Kopf. Ganz ruhig. Ich rief mir ins Gedächtnis, dass Pistillo jedes Mittel recht war. Hatte er mir nicht erst gestern Abend was anhängen wollen?
»Aber ich greife vor, Will. Und ich will nicht, dass Sie einen falschen Eindruck bekommen. Wir glauben nicht, dass Ihr Bruder jemanden umgebracht hat.«
Wieder fuhr ich zusammen. »Aber Sie haben doch gerade eben …«
Er hob die Hand. »Lassen Sie mich zu Ende erzählen.«
Pistillo stand wieder auf. Er brauchte die Zeit. Das war unübersehbar. Seine Miene war erstaunlich unbeteiligt, ja gelassen, aber nur, weil er seine Wut unterdrückte. Ich fragte mich, wie lange er das durchhalten würde. Ich fragte mich, wie oft es ihm nicht gelang und er Zornesausbrüche bekam, wenn er seine Schwester ansah.
»Ihr Bruder hat für Philip McGuane gearbeitet. Den kennen Sie ja wohl.«
Ich ließ mir nichts anmerken. »Und weiter?«
»McGuane ist noch gefährlicher als Ihr Kumpel Asselta, vor allem, weil er klüger ist. Die OCID hält ihn für eins der höchsten Tiere an der Ostküste.«
»OCID?«
»Organized Crime Investigation Division, die Abteilung für Organisiertes Verbrechen«, sagte er. »McGuane hat schon in jungen Jahren vorhergesehen, was die Zukunft bringen würde. In puncto Anpassungsfähigkeit ist der Mann der perfekte Überlebenskünstler. Ich erspare Ihnen die Details über den aktuellen Stand der Dinge im Organisierten Verbrechen – die neuen Russen, die Triaden, die Chinesen, die Italiener. McGuane war der Konkurrenz immer zwei Schritte voraus. Mit dreiundzwanzig war er schon Boss. Er hat sämtliche Klassiker im Angebot – Drogen, Prostitution, Wucherkredite –, aber seine Spezialität sind Korruption, Bestechung und die Verlagerung der Drogengeschäfte in Gegenden mit weniger Konkurrenz, außerhalb von New York City.«
Ich musste an das denken, was Tanya über Sheila und Haverton College gesagt hatte.
»McGuane hat meinen Schwager und seinen Partner Curtis Angler umbringen lassen. Ihr Bruder hing da mit drin. Wir haben ihn verhaftet, aber wegen weniger gravierender Anklagepunkte.«
»Wann?«
»Sechs Monate vor dem Mord an Julie Miller.«
»Wieso hab ich das nie erfahren?«
»Weil Ken Ihnen nichts davon erzählt hat. Und weil wir nicht Ihren Bruder wollten. Wir wollten McGuane. Also haben wir ihn umgedreht.«
»Umgedreht?«
»Wir haben ihm für seine Mitarbeit Straffreiheit versprochen.«
»Sie wollten, dass er gegen McGuane aussagt?«
»Nicht nur das. McGuane war vorsichtig. Unsere Beweise reichten nicht aus, um ihn für den Mord hinter Gitter zu bringen.
Wir brauchten einen Informanten. Also haben wir ihn verkabelt und wieder hingeschickt.«
»Heißt das, Ken hat undercover für Sie gearbeitet?«
Pistillos Augen funkelten unbarmherzig. »Stellen Sie sich das bloß nicht zu glamourös vor«, sagte er bissig. »Ihr nichtsnutziger Bruder war kein Gesetzeshüter. Er war bloß ein mieser Typ, der seine eigene Haut retten wollte.«
Ich nickte und erinnerte mich daran, dass das alles gelogen sein konnte. »Und weiter?«, sagte ich.
Er drehte sich um und nahm einen Keks von der Arbeitsplatte. Er kaute gemächlich und spülte ihn mit Eistee herunter. »Wir wissen nicht genau, was dann passiert ist. Ich kann Ihnen nur erzählen, wie wir es uns vorstellen.«
»Okay.«
»McGuane hat das Ganze spitzgekriegt. Eins müssen Sie wissen: McGuane ist ein brutales Arschloch. Für ihn ist es eine ganz normale Entscheidung, ob er jemanden
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