Kein Lebenszeichen
endlich vorankamen. Sie schenkte mir in aller Ruhe ein Glas ein und stellte es vor mir ab. Ich bedankte mich und versuchte zu lächeln. Sie wollte das Lächeln erwidern, ihres fiel aber noch halbherziger aus als meins.
Sie sagte: »Ich warte nebenan, Joe.«
»Danke, Maria.«
Sie stieß die Schwingtür auf.
»Das ist meine Schwester«, sagte er, den Blick weiter auf die Tür gerichtet, durch die sie verschwunden war. Er deutete auf die Fotos am Kühlschrank. »Das sind ihre beiden Söhne. Vic junior ist achtzehn, Jack sechzehn.«
»Mhm.« Ich legte die gefalteten Hände auf den Tisch. »Sie haben mein Telefon angezapft.«
»Ja.«
»Dann wissen Sie ja, dass ich keine Ahnung habe, wo mein Bruder ist.«
Er nippte an seinem Eistee. »Allerdings.« Er starrte immer noch den Kühlschrank an und forderte mich mit einer Kopfbewegung auf, es ihm gleichzutun. »Fehlt auf diesen Bildern irgendwas?«
»Ich habe wirklich keine Lust auf Spielchen, Pistillo.«
»Ich auch nicht. Aber schauen Sie mal genau hin. Was fehlt da?«
Ich brauchte nicht hinzusehen, weil ich es schon wusste. »Der Vater.«
Er schnippte mit den Fingern und deutete auf mich wie ein Gameshow-Moderator. »Gleich beim ersten Versuch«, sagte er. »Beeindruckend.«
»Was soll das?«
»Meine Schwester hat vor zwölf Jahren ihren Mann verloren. Die Jungs, na ja, das können Sie auch selbst ausrechnen. Sie waren sechs und vier. Maria hat sie allein großgezogen. Ich habe geholfen, wo ich konnte, aber ein Onkel kann natürlich nicht den Vater ersetzen.«
Ich sagte nichts.
»Er hieß Victor Dober. Sagt Ihnen der Name irgendwas?«
»Nein.«
»Vic wurde ermordet. Zwei Kopfschüsse, quasi eine Hinrichtung.« Er trank seinen Eistee aus und setzte hinzu: »Ihr Bruder war dabei.«
Mein Herz machte einen Sprung. Pistillo stand auf, ohne meine Reaktion abzuwarten.
»Meine Blase wird es bereuen, aber ich trink noch ein Glas. Möchten Sie auch noch was, Will, wo ich schon stehe?«
Ich versuchte, den Schock zu verarbeiten. »Wie meinen Sie das, mein Bruder war dabei?«
Aber jetzt ließ Pistillo sich Zeit. Er öffnete den Gefrierschrank, nahm den Eiswürfelbehälter heraus und klopfte ihn über der Spüle aus. Die Eiswürfel klapperten auf das Porzellan. Er fischte ein paar heraus und füllte sein Glas. »Erst müssen Sie mir was versprechen.«
»Was?«
»Es geht um Katy Miller.«
»Was ist mit ihr?«
»Sie ist fast noch ein Kind.«
»Weiß ich.«
»Das Ganze ist verdammt gefährlich. Das sieht sogar ein Blinder mit ’nem Krückstock. Ich will nicht, dass ihr noch mal was zustößt.«
»Ich auch nicht.«
»Dann sind wir uns ja einig«, sagte er. »Versprechen Sie’s mir, Will. Versprechen Sie mir, dass Sie sie da nicht mehr mit reinziehen.«
Ich sah ihn an und wusste, dass dieser Punkt nicht zur Diskussion stand. »Okay«, sagte ich. »Sie ist raus.«
Er sah mir prüfend ins Gesicht und suchte nach Anzeichen für eine Lüge, doch er hatte einfach Recht. Katy hatte bereits einen enormen Preis bezahlt. Ich wusste nicht, ob ich damit klargekommen wäre, wenn man ihr noch mehr abverlangte.
»Was war jetzt mit meinem Bruder?«, fragte ich.
Pistillo hatte sich seinen Eistee eingeschenkt und setzte sich wieder. Er sah erst auf den Tisch und hob dann den Blick. »Die Zeitungen berichten von den großen Verhaftungen«, setzte Pistillo an. »Sie schreiben, wie wir auf dem Fulton Fish Market aufgeräumt haben. Die Fernsehnachrichten zeigen, wie lauter alte Männer abgeführt werden, und man denkt sich: Die Zeiten sind vorbei. Die Mafia ist Geschichte. Die Cops haben gewonnen.«
Meine Kehle fühlte sich mit einem Mal trocken und sandig an, als wollte sie sich ganz und gar zuschnüren. Ich trank einen großen Schluck aus meinem Glas. Der Tee war zu süß.
»Kennen Sie sich mit Darwin aus?«, fragte er.
Ich hielt das für eine rhetorische Frage, aber er wartete auf eine Antwort. Ich sagte: »Nur der Stärkste überlebt und so.«
»Nicht der Stärkste«, sagte er. »Das ist die aktuelle Auslegung, und die ist falsch. Die Idee ist nicht, dass die Stärksten überleben, sondern die Anpassungsfähigsten. Verstehen Sie den Unterschied?«
Ich nickte.
»Die Gerisseneren haben sich also angepasst. Sie haben ihre Geschäfte aus Manhattan anderswohin verlagert. Sie haben die Drogen zum Beispiel in den Vororten verkauft, wo die Konkurrenz nicht so groß war. Und was die Korruption angeht, haben sie sich auf die Städte in New Jersey konzentriert. Camden zum
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