Kein Lebenszeichen
Yoga-Schulungszentrum daraus. Auf dem ehemaligen Fußballfeld von Camp Millstone hatte er sich ein Farmhaus gebaut. Es führte nur ein Weg zum Haus, das mitten auf dem Feld lag, so dass man jeden kommen sah, der sich näherte.
Wir waren uns einig, dass das der perfekte Ort für ein Familientreffen war.
Melissa kam mit dem Flugzeug aus Seattle. Weil wir übervorsichtig waren, landete sie in Philadelphia. Mein Vater, sie und
ich trafen uns an der Vince-Lombardi-Raststätte am New Jersey Turnpike. Wir machten uns zu dritt auf den Weg. Außer Nora, Katy und Squares wusste sonst niemand von dem Treffen. Die drei reisten separat an. Sie wollten sich morgen mit uns treffen, weil auch sie sich nach einem Schlussstrich sehnten.
Heute Abend jedoch, am ersten Abend, waren die engsten Familienangehörigen unter sich.
Ich war fürs Fahren zuständig. Dad saß neben mir auf dem Beifahrersitz und Melissa hinten. Wir sprachen nicht viel. Die Spannung schnürte uns die Brust ein – vor allem wohl mir. Ich hatte die Erfahrung gemacht, dass man keine voreiligen Schlüsse ziehen durfte. Bevor ich Ken nicht mit eigenen Augen gesehen, ihn umarmt und mit ihm gesprochen hatte, wollte ich nicht glauben, dass endlich alles wieder gut sein sollte.
Ich dachte an Sheila und Nora. Ich dachte an den Ghost, den »Anführer der Klasse« Philip McGuane und was aus ihm geworden war. Eigentlich hätte ich überrascht sein müssen, aber das war ich nicht so recht. Wir geben uns immer »schockiert«, wenn wir von Gewalt in den Vorstädten hören, als ob ordentlich gewässerter Rasen, Split-Level-Einfamilienhäuser, Little League -Softballmannschaften, Mütter, die die Kinder zum Fußballtrainig fuhren, Klavierstunden, Four-Squares-Spielfelder und Elternbeiratssitzungen irgendwie als Bann gegen das Böse wirken. Wären der Ghost und McGuane nur fünfzehn Kilometer von Livingston entfernt aufgewachsen – so weit ist es, wie schon gesagt, bis ins Zentrum von Newark –, wäre niemand »schockiert« oder »empört« darüber gewesen, was aus ihnen geworden war.
Ich legte die CD von Springsteens Konzert im Madison Square Garden im Sommer 2000 ein. So verging die Zeit etwas schneller, viel brachte es allerdings nicht. Auf der Route 95 wurde gebaut – wie eigentlich immer –, und wir brauchten fünf
quälende Stunden für die Fahrt. Wir parkten vor dem roten Farmhaus mit der Silo-Attrappe. Kein anderes Auto war zu sehen. Nichts anderes hatten wir erwartet. Wir sollten zuerst da sein. Ken kam später.
Melissa stieg aus. Sie schlug die Tür zu, und das Geräusch hallte über das leere Feld. Als ich auf dem Rasen stand, hatte ich das alte Fußballfeld wieder vor Augen. Dort, wo die Garage stand, war früher ein Torpfosten gewesen. Und wo früher die Reservebänke gestanden hatten, verlief jetzt die Zufahrt. Ich sah zu meinem Vater hinüber. Er wandte den Blick ab.
Einen Moment lang standen wir drei einfach da. Ich durchbrach den Bann und ging zum Farmhaus. Dad und Melissa folgten ein paar Schritte hinter mir. Wir dachten alle an Mom. Sie hätte hier sein müssen. Sie hätte die Gelegenheit haben müssen, ihren Sohn noch einmal zu sehen. Das hätte das Sunny-Lächeln wieder zum Leben erweckt, da waren wir sicher. Nora hatte meiner Mutter kurz vor ihrem Tod noch Trost gespendet, indem sie ihr das Foto gegeben hatte. Ich kann Ihnen gar nicht sagen, wie wichtig das für mich ist.
Mir war klar, dass Ken allein kommen würde. Carly hatte er irgendwo sicher untergebracht. Wo, wusste ich nicht. Wir sprachen kaum über sie. Für Ken war dieses Familientreffen ein nicht unerhebliches Risiko. Er würde seine Tochter nicht in Gefahr bringen. Dafür hatte ich natürlich vollstes Verständnis.
Wir gingen im Haus auf und ab. Niemand wollte etwas trinken. In einer Ecke stand ein Spinnrad. Das Ticken der Standuhr hallte so laut durch den ansonsten stillen Raum, dass man fast verrückt davon wurde. Schließlich setzte Dad sich. Melissa kam zu mir. Sie sah mit ihren Große-Schwester-Augen zu mir auf und flüsterte: »Warum fühlt es sich nicht an, als würde der Albtraum zu Ende gehen?«
Darüber wollte ich gar nicht nachdenken.
Fünf Minuten später hörten wir ein Auto näher kommen.
Wir stürzten alle ans Fenster. Ich schob den Vorhang zur Seite und starrte hinaus. Es fing an zu dämmern. Man konnte noch ganz gut sehen.
Das Auto war ein grauer Honda Accord, ein sehr unauffälliges Modell. Mein Herz schlug ein bisschen schneller. Ich wollte nach draußen
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