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Kein Lebenszeichen

Kein Lebenszeichen

Titel: Kein Lebenszeichen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: H Coben
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stürmen, blieb jedoch, wo ich war.
    Der Honda hielt an. Ein paar Sekunden lang – Sekunden, die die verdammte Standuhr mitzählte – passierte gar nichts. Dann öffnete sich die Fahrertür. Meine Hände krallten sich so fest in den Vorhang, dass er beinahe zerriss. Ich sah, wie ein Fuß auf den Boden gesetzt wurde. Dann stieg ein Mann aus dem Auto und richtete sich auf.
    Es war Ken.
    Er lächelte mir zu, mit diesem Ken-Lächeln, diesem selbstbewussten »Wir zeigen’s dem Leben«-Lächeln. Mehr brauchte ich nicht. Ich stieß einen Freudenschrei aus und rannte zur Tür. Ich riss sie auf, aber Ken kam schon auf mich zugesprintet. Er stürmte ins Haus und stürzte sich auf mich. Die Jahre waren vergessen. Einfach so. Wir lagen auf dem Boden und rollten über den Teppich. Ich kicherte wie ein Siebenjähriger. Er lachte ebenfalls.
    Der Rest der Erinnerung verschwimmt in einem Nebel aus Glückseligkeit. Dad warf sich auf uns. Dann Melissa. Ich sehe die Szene vor mir wie eine Reihe verwackelter Schnappschüsse. Ken umarmt Dad; Dad packt Ken um den Hals und küsst ihn lange auf den Kopf, während ihm Tränen die Wangen herabströmen; Ken wirbelt Melissa durch die Luft; Melissa weint und tätschelt ihren Bruder, als wollte sie sich vergewissern, dass er wirklich da ist.
    Elf Jahre.
    Ich weiß nicht, wie lange wir so herumtollten, wie lange wir
in diesem herrlichen, konfusen Chaos versanken. Irgendwann hatten wir uns so weit beruhigt, dass wir uns auf die Couch setzen konnten.
    Ken hielt sich nahe bei mir. Mehrmals klemmte er sich meinen Kopf unter den Arm und verpasste mir »Nuggies«. Ich hatte nicht gewusst, wie schön es sein kann, Kopfnüsse zu kriegen.
    »Du hast es mit dem Ghost aufgenommen und überlebt«, sagte Ken, während mein Kopf unter seinem Arm klemmte. »Ich glaube, ich muss nicht mehr auf dich aufpassen.«
    Ich riss mich los und sagte flehentlich: »Doch, musst du.«

    Die Nacht brach herein. Wir gingen nach draußen. Ich spürte die wunderbare Nachtluft in meiner Lunge. Ken und ich gingen voraus. Melissa und Dad blieben etwa zehn Meter zurück; sie spürten vielleicht, dass wir unter uns sein wollten. Ken hatte mir den Arm um die Schultern gelegt. Ich weiß noch, wie ich damals im Ferienlager mal einen entscheidenden Freiwurf verfehlt hatte. Dadurch hatte meine Hütte das Spiel verloren. Meine Kameraden hatten angefangen, auf mir herumzuhacken. Nichts Besonderes, Ferienlager eben. Das passiert jedem mal. An dem Abend hatte Ken mich auf einen Spaziergang mitgenommen. Er hatte den Arm um mich gelegt.
    So geborgen fühlte ich mich auch jetzt wieder.
    Er fing an, mir seine Geschichte zu erzählen. Sie deckte sich mehr oder weniger mit dem, was ich schon wusste. Er hatte ein paar unschöne Dinge getan. Er hatte eine Abmachung mit dem FBI getroffen. McGuane und Asselta hatten davon erfahren.
    Er drückte sich um eine Antwort auf die Frage, warum er an jenem Abend nach Hause gekommen war, und vor allem, was er
bei Julie gewollt hatte. Doch ich wollte, dass alles ans Licht kam. Es hatte schon viel zu viele Lügen gegeben. Also fragte ich ihn geradeheraus: »Warum seid ihr nach Hause gekommen, Julie und du?«
    Ken zog eine Zigarettenschachtel aus der Tasche.
    »Rauchst du inzwischen?«, fragte ich.
    »Ja, aber ich werd aufhören.« Er sah mich an und sagte: »Julie und ich dachten, das wäre ein guter Treffpunkt.«
    Ich musste an das denken, was Katy gesagt hatte. Genau wie Ken war Julie über ein Jahr nicht zu Hause gewesen. Ich wartete, dass er fortfuhr. Er starrte auf seine Zigarette und zündete sie nicht an.
    »Tut mir Leid«, sagte er.
    »Schon okay.«
    »Ich wusste, dass du noch nicht über die Trennung weg warst, Will. Aber ich hab damals Drogen genommen. Ich war ein totales Arschloch. Aber vielleicht war’s das auch gar nicht. Vielleicht bin ich bloß egoistisch gewesen, ich weiß auch nicht.«
    »Ist auch nicht weiter wichtig«, sagte ich. Und das war die Wahrheit. »Aber ich kapier’s immer noch nicht. Was hatte Julie damit zu tun?«
    »Sie hat mir geholfen.«
    »Wie geholfen?«
    Ken zündete seine Zigarette an. Jetzt sah ich die Falten in seinem Gesicht. Seine Züge waren gut geschnitten, aber leicht verwittert. Er sah fast noch besser aus als früher. Seine Augen waren noch immer das reinste Eis. »Sie hat mit Sheila zusammen auf dem Campus in Haverton gewohnt. Die beiden waren befreundet.« Er hielt inne und schüttelte den Kopf. »Also, Julie ist drogenabhängig geworden. Das ist meine Schuld.

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